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»Die Genossenschaftsidee ist in hohem Maße geeignet, das Modell der sozialen Marktwirtschaft zu stützen«

Genossenschaftsidee
S. Hofschlaeger / pixelio.de

Günter Althaus, Präsident des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbands und im Hauptamt Vorstandsvorsitzender der ANWR Group eG in Mainhausen, Hessen, spricht im Geno-Graph-Interview über die Chancen und Herausforderungen des genossenschaftlichen Wirtschaftens in unserer Zeit des Wandels.

Herr Althaus, Genossenschaften seien in Zeiten des Wandels besonders stark, heißt es. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass wir gerade eine Phase der tiefgreifenden Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft erleben. Da müsste doch eine Genossenschafts-Gründungsdynamik erkennbar sein. Ist dies aus Ihrer Wahrnehmung der Fall?

DGRV-Präsident Günter Althaus
DGRV-Präsident Günter Althaus

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass Genossenschaften eine sehr geeignete Rechtsform sind, um Zeiten des Wandels bestehen zu können. Dafür gibt es naheliegende Gründe: Es kommt in Zeiten des Wandels in vielen Unternehmen eine operative Hektik zum Vorschein, die viel zu schnell mit der Vergangenheit bricht und alles über den Haufen wirft, ohne den Erfolg des Neuen verlässlich abschätzen zu können.

Unsere Rechtsform schützt uns sowohl hinsichtlich des Entscheidungsbildungsprozesses als auch durch unsere langfristige und werteorientierte Unternehmensentwicklung vor den vorgenannten Fehlern. Dass wir dadurch von außen teilweise als behäbig und langsam wahrgenommen werden, ist zu verkraften. Insbesondere wenn wir in den Veränderungsprozessen die Kraft der Gemeinschaft nutzen, um intelligente neue Lösungen zu entwickeln, sind wir auf einem sehr guten Weg.

Von einer Gründungswelle in der Rechtsform der Genossenschaft kann man momentan sicherlich nicht sprechen, zielt doch diese Bezeichnung auf Quantität ab. Allerdings entstehen an zahlreichen Stellen gerade hochspannende neue Genossenschaften, zum Beispiel zur Realisierung der digitalen Infrastruktur.

Müssen die genossenschaftlichen Akteure mehr und lauter für den Wertekanon ihrer Rechts- und Unternehmensform trommeln – auch und gerade angesichts der Bedürfnisse der Generationen Y und Z, die Werte wie gemeinschaftliche Teilhabe als sinnstiftend erachten?

Zunächst müssen wir unseren Wertekanon im Inneren der Organisation wieder stärker zur Geltung bringen. Subsidiarität, gemeinschaftliches Handeln – und das immer mit dem Bewusstsein, die Förderung des Erwerbs der Mitglieder in den Fokus zu stellen – muss die Verhaltensweise aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Unternehmen prägen. Dann strahlt die Organisation von innen heraus und wird allein schon durch den daraus entstehenden Erfolg neue Bedeutung und Attraktivität gewinnen.

Es schadet allerdings auch nicht, wenn wir ab und zu kundtun, welche Aufgaben Genossenschaften in Wirtschaft und Gesellschaft in beeindruckender Art und Weise erfüllen.

Wir schreiben das Jahr 2018, in dem die Zeitgenossen Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Karl Marx 200 Jahre alt geworden wären. Die Wirtschafts- und Feuilletonseiten der überregionalen Medien sind voll mit Marx-Berichterstattung. Spötter sprechen vom Marx-Rummel. Warum findet in der öffentlichen Wahrnehmung Raiffeisen weniger statt, wo sich doch sein Ideengebäude als deutlich nachhaltiger erwiesen hat, als die Marx‘schen Schlussfolgerungen?

Die Überlegungen von Marx waren meines Erachtens geprägt durch einen einseitigen ideologischen und in seiner Zeit revolutionären Gedankenansatz. Daher hat Marx viel mehr als unsere Gründerväter eine polarisierende Diskussion und einen teilweise theoretisch überhöhten Diskurs herausgefordert. Das bringt öffentliche Aufmerksamkeit, auch nach 200 Jahren.

Raiffeisen und Schulze-Delitzsch waren im direkten Vergleich Pragmatiker. Ihre Entwicklungen folgten dem gesunden Menschenverstand und waren einfach verstehbar. Das ist nicht populär, aber wahnsinnig erfolgreich. Wir sollten uns also von dem Rummel nicht beeindrucken lassen, sondern vielmehr unsere Erfolge feiern.

Im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs spielt die besondere genossenschaftliche Art des Wirtschaftens (Stichwort „Homo cooperativus“) offensichtlich lediglich eine Nebenrolle. Ist dies dem Mainstream der Neoklassik geschuldet, die Ökonomie und Moral nicht in Zusammenhang bringt?

Diese Erklärung wäre mir zu weitgehend. Ich denke, es liegt vielmehr an dem soziologischen Kern einer Genossenschaft, nämlich die Idee der Gemeinschaft, dass dieses Model nicht ganz so sexy daherkommt wie alternative Wirtschaftsmodelle, die viel mehr Risiko, manchmal auch Chancen mit sich bringen. Für mich ist die Genossenschaftsidee in hohem Maße geeignet, das Modell der sozialen Marktwirtschaft zu stützen.

Genossenschaftliche Unternehmen und Verbünde haben das Erfolgsmodell der deutschen Wirtschaft, den „German Mittelstand“, so lange überleben lassen und die Volkswirtschaft vor zu großen „Klumpenrisiken“ geschützt.

Das wichtigste Produktionsmittel des Digitalkapitalismus sind Daten. Aktuell wird die Organisation von Daten-Clouds für mittelständische Unternehmen durch Genossenschaften diskutiert. Ziel ist es, nicht von externen Dienstleistern abhängig zu sein. Die Eigentümer der Daten wären die Eigentümer der Cloud und gleichzeitig Nutzer der Cloud-Leistungen. Das ist ein klassisch genossenschaftlicher Ansatz. Einer mit Potenzial?

Definitiv. Aus meiner Sicht ist die genossenschaftliche Rechtsform geradezu prädestiniert zur Umsetzung derartiger Aufgabenstellungen. Und dies nicht allein wegen der Identität zwischen Eigentümern und Nutzern. Insbesondere der Zweck einer Genossenschaft, die gemeinschaftliche Organisation und Verwaltung, eine hohe Transparenz über das Geschäftsmodell und nicht zuletzt der Fördergedanke bieten wirksamen Schutz vor einer missbräuchlichen Verwendung großer Datenmengen.

In welchen Märkten und Wertschöpfungsketten sehen Sie weitere Erfolg versprechende Perspektiven für Genossenschaften?

Es zeigt sich in unterschiedlichen Bereichen, dass Genossenschaften einen wichtigen Beitrag bei der Organisation und Aufrechterhaltung öffentlicher Infrastruktur spielen können, zum Beispiel im Bereich Energie, aber auch aktuell bei der Schaffung leistungsfähiger digitaler Infrastrukturen. Ganz grundsätzlich ist die Rechtsform insbesondere für die Organisation von gemeinschaftlichem Einkauf und Vermarktung geeignet, was in Zeiten einer sich konzentrierenden Wirtschaft immer höhere Bedeutung zur Aufrechterhaltung des Mittelstandes hat.

Zusammenfassend kann man sagen, Genossenschaften sind immer dann die richtige Wahl, wenn es um eine soziale und nachhaltige Form des Wirtschaftens geht.

Wir haben es in den ländlichen Räumen mit einer schleichenden Erosion der Infrastruktur zu tun. Kommunen stehen vor der immer schwieriger werdenden Herausforderung, den Auftrag der Daseinsfürsorge zu erfüllen. Genossenschaftliche Dorfläden zur Sicherstellung der Nahversorgung mit Lebensmitteln sind nur ein Beispiel. Ein anderes ist das Thema Gesundheit: Der Beruf des selbstständigen Landarztes als „Einzelkämpfer fast ohne Freizeit“ ist vom Aussterben bedroht. Der Mediziner-Nachwuchs hat andere Pläne. Sind Zusammenschlüsse von Kommunen und Bürgern in Form von Genossenschaften, die Ärztehäuser für angestellte Ärzte bauen und für weitere als attraktiv empfundene organisatorische Rahmenbedingungen sorgen, ein brauchbarer Lösungsansatz?

In einer weiteren Definition kann man ja sehr wohl den Bau und den Betrieb eines kommunalen Ärztehauses als Infrastrukturprojekt beschreiben. Und da gilt natürlich das zuvor Gesagte. Aber die genossenschaftliche Organisation hat ja schon seit Jahrzehnten spezialisierte Unternehmen, die Branchenthemen lösen. So stellt in dem angesprochenen Bereich insbesondere die Apotheker- und Ärztebank immer mehr Konzepte und Modelle zur Verfügung, mit denen solche Herausforderungen pragmatisch gelöst werden können. Genossenschaften sind also nicht nur eine sinnvolle Organisationsform, sondern sehr häufig auch beeindruckende Quelle für Inspiration und Innovation.

Herr Althaus, Sie haben ihre berufliche Vita als Bankkaufmann gestartet. Genossenschaftsbanken betonen als Alleinstellungsmerkmale die regionale Verankerung, die Nähe zum Kunden und die Mitgliederförderung. Sind das in einer Zeit der zunehmenden Durchdigitalisierung aller Lebensbereiche noch zukunftssichernde Assets?

Wenn ich das gegenwärtige Geschehen im Fintech-Bereich nicht ganz falsch interpretiere, führen unweigerlich alle neuen Entwicklungen dazu, dass Bankgeschäfte von räumlichen Voraussetzungen getrennt werden. Und da das – teilweise – umgesetzte Regionalprinzip der Volksbanken und Raiffeisenbanken keine Exklusivität für Geschäft begründet, würde ich auf diese Stärke der Vergangenheit nicht setzen. Die Kundennähe habe ich schon einmal vor fast zwanzig Jahren in einem Fachartikel in unterschiedlichen Dimensionen interpretiert. So sind für mich die Faktoren emotionale Nähe, Bedarfsnähe und Verfügbarkeit wichtiger als räumliche Nähe.

Die Mitgliederförderung muss ganz eindeutig unser Alleinstellungsmerkmal sein. Damit dies aber auch die Kunden und die Mitglieder merken, muss die Idee zeitgemäß interpretiert werden und aus Sicht der begünstigten einen echten Nutzen bieten. Eine Versicherungspolice günstiger anzubieten oder an einer schriftlichen Wahl zur Besetzung der Vertreterversammlung teilzunehmen, reicht sicherlich nicht.

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