Seit 2015 läuft in Baden-Württemberg die Kampagne „Neue Mobilität – bewegt nachhaltig“. Für Genossenschaften ergeben sich daraus ganz neue Handlungsräume. Das baden-württembergische Ministerium für Infrastruktur und Verkehr (MVI) erstellte zu der Kampagne eigens ein Internetportal (www.neue-mobilitaet-bw.de) und organisiert eine Reihe von Veranstaltungen, die es erlauben, sich dem Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu nähern. Intermobilität, Reduzierung des Autoverkehrs, Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs, vernetzte Mobilität, gleiche Verkehrszugangsmöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen und Inklusivität sind nur einige der Schlagworte in der breiten Diskussion um eine nachhaltige Mobilität, die allen Verkehrsteilnehmern gerecht werden soll.
Die Bemühungen der baden-württembergischen Landesregierung und insbesondere des Verkehrsministeriums sind eingebettet in eine bundesweite Strategie, die plant, Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent, bis 2050 um mindestens 80 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Um dies umzusetzen, hat sich die Bundesregierung bis 2020 zum Ziel gesetzt, eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen in Betrieb zu haben. Darüber hinaus plant das Bundesverkehrsministerium 2016 eine Neuauflage der Mobilitätsstudie „Mobilität in Deutschland“ (kurz: MiD). In einer beispiellosen Befragung von 100.000 Haushalten – also geschätzten 300.000 Teilnehmern – sollen Daten zur Länge, Art des Verkehrsmediums und Zweck des zurückgelegten Wegs erhoben werden. Von der Auswertung der Daten verspricht man sich neue Erkenntnisse zu Nutzungs- und Verkehrstrends. Zuletzt wurde die MiD 2008 durchgeführt. Die Studie 2016 wird nach dem Zensus die zweitgrößte sozialwissenschaftliche Erhebung in Deutschland.
Mobilität im ländlichen Raum
In Baden-Württemberg werden laut MVI ein Drittel aller Treibhausgase allein durch den Verkehr generiert. Das ist mehr als durch die Industrie im Land. In den vergangenen Jahren ist sogar trotz fortschrittlicher Technologien wieder eine Zunahme von Schadstoffemissionen zu verzeichnen. Der Modal Split (Verteilung des Transportaufkommens auf verschiedene Verkehrsmittel) in Baden-Württemberg ist charakterisiert durch einen noch sehr hohen Anteil an motorisiertem Individualverkehr: 80 Prozent am Gesamtverkehr. Bis jetzt ist nach Einschätzung der Landesregierung noch kein Trend zur nachhaltigen Mobilität im Land zu erkennen. Daher sind die Ziele der Kampagne „Neue Mobilität: bewegt nachhaltig“ eindeutig:
- bessere Vernetzung und Nutzung innovativer Technologien
- Förderung von Innovationen auch im Pkw-Bereich
- Zielerreichung im Einklang mit Mensch und Umwelt
- Förderung der Lebensqualität
In ländlichen Regionen sieht die Landesregierung die Zukunft vor allem im Bereich „Car Sharing“ und der „Sharing Economy“, einem gesellschaftlichen Trend zu nutzen statt zu besitzen (siehe Artikel „Genossenschaften und Share Economy). Um den Defiziten der Ergebnisse der Mobilitäts- und Verkehrspolitik der Landesregierung zu begegnen, fordern andere Landesparteien wie etwa die FDP in ihrem Wahlprogramm für 2016 explizit, „Mobilität neu zu denken“. Dazu gehört auch die Einrichtung vernetzter Mobilitätszentren. Alternative Antriebstechnologien und intelligente Steuerungssysteme, sowie umweltbewusste und effiziente Mobilitätsangebote sind Kernziele der Mobilitätsstrategie der CDU.
Genossenschaftliche Potenziale in der Mobilität
Mobilität ist auf den ersten Blick kein klassisches Genossenschaftsthema. Dabei gibt es beispielsweise die meisten Taxigenossenschaften in Deutschland schon seit den 50er und 60er Jahren. Die Taxi-Auto-Zentrale Stuttgart eG wurde bereits 1928 gegründet.
Beispiele für Baden-Württemberg
Weiler Wärme eG/Weiler-e-mobil
In Verbindung mit der Stromproduktion entsteht bei der Weiler Wärme eG eine Flotte mit Elektrofahrzeugen, vom Fahrrad bis zum Auto. Die Weiler Wärme will ein flächendeckendes E-Tankstellennetz in Pfalzgrafenweiler aufbauen. Bis Ende 2015 bezschusst das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) dieses Vorreiterprojekt : „Weiler Wärme eG: Wir wollen den Zweitwagen ersetzen“.
Bikeage eG
Zum ganzheitlichen Konzept der Genossenschaft Bikeage gehört die Entwicklung und Vermarktung von Mobilitätskonzepten zur Nutzung klima- und umweltverträglicher Verkehrsmittel, zum Beispiel für Unternehmen und Verwaltungen. Durch die Einlagen und Genossenschaftsdarlehen der Mitglieder ist man bankenunabhängig. Das so ersparte Geld kommt wiederum den Mitgliedern in Form von Einkaufsvergünstigungen, Sharing-Angeboten und einer attraktiven Dividende zugute.
Busforum/IGP – Interessengemeinschaft des Personenverkehrsgewerbes eG
Die IGP wurde 1963 gegründet. Mit Serviceleistungen wie der Schülerbeförderungskostenabrechnung, dem Warenverkauf, dem Versicherungsdienst und der Umsatzsteuer-Clearingstelle ist sie ein Dienstleistungszentrum „rund um den Bus“ und das mittelständische Gewerbe.
Taxigenossenschaften
Taxigenossenschaften sind ein traditionelles Beispiel von Dienstleistungsgenossenschaften, in denen Einzelunternehmer des Taxigewerbes eine gemeinsame Taxizentrale organisieren. Ihre Funktionen sind insbesondere Funkvermittlung und damit Erleichterung des Marktzugangs, Vereinbarung des Dienstleistungsentgelts, Werbung, gemeinsamer Einkauf von Treibstoffen, Hilfs- und Betriebsstoffen sowie Ersatzteilen. In Baden-Württemberg gibt es derzeit neun Taxigenossenschaften, die Mitglieder des BWGV sind.
Friedhofsmobil der Friedhofsgenossenschaft Friedhof eG Baden
Ein innovatives Mobilitätskonzept wurde aus einer bereits bestehenden Genossenschaft geboren. Die Friedhofsgenossenschaft Friedhof eG Baden stellt seit 2008 einen Fahrservice für unterstützungsbedürftige Menschen auf den oft weitläufigen Friedhofsgeländen für Genossenschaftsmitglieder zur Verfügung. Die Elektro-Golffahrzeuge bieten Platz für bis zu drei Personen und Stauraum für Rollstuhl und Rollator.
Mit der steigenden Mobilität der Bevölkerung, zusätzlichen Verkehrsangeboten und dem Wandel der Bevölkerungsstruktur der vergangenen Jahrzehnte ergeben sich immer vielfältigere Möglichkeiten für Genossenschaften. Einige Modelle und Ideen sollen nachfolgend die Vielfalt und Innovationsstärke der genossenschaftlichen Idee illustrieren.
Modell 1 – Elektromobilität
Genossenschaftliche Modellprojekte sichern im Bereich der Elektromobilität sowohl die Infrastruktur als auch den Betrieb, oftmals auf der Grundlage von gemeinschaftlichen Nutzungsmodellen. Bei der Vermietung von Ladeinfrastruktur ergeben sich eine Reihe von Handlungspotenzialen und Kooperationsmöglichkeiten. Viele interessante Standorte und Kommunen können oder möchten noch nicht in eine Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge investieren. Einige Standortbesitzer sind bereit, Miete für die Ladepunkte und die Abrechnung des Stroms zu bezahlen. Als Eigentümerin der Ladeinfrastruktur kann die Genossenschaft diese vermieten und so erste planbare Einnahmen für die Genossen generieren. Wenn die Ladeinfrastruktur und die Stellplätze der Genossenschaft gehören, dann kann diese auch mit der entsprechenden Stromhandelslizenz den Strom selbst erzeugen und vermarkten.
Modell 2 – Bürgerbusse
Die Einrichtung von Bürgerbussen ist oft ein Versuch, auf die Veränderungen des Mobilitätsverhaltens, die der demografische Wandel gerade im ländlichen Raum mit sich bringen, zu reagieren: weniger Schüler und junge Fahrgäste, dafür mehr ältere Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Bisher gibt es in Deutschland nur einen genossenschaftlich organisierten Bürgerbusverbund: den Bürgerbusverbund Sauerland-Hellweg eG in Nordrhein-Westfalen. In Baden-Württemberg wird die Errichtung von Bürgerbussen 2015 und 2016 mit bis zu 100.000 Euro durch das Land gefördert. Zur Förderung gehört auch die Anschaffung eines Fahrzeugs, das seit diesem Jahr auch ein Gebrauchtfahrzeug sein kann. Zusätzlich wird auch der Personenbeförderungsschein“, den die Fahrer benötigen, gefördert.
Modell 3 – Car Sharing
Besonderes Potenzial sieht die Landesregierung vor allem in Car-Sharing-Modellen für ältere Menschen im ländlichen Raum. Oft werden private Fahrzeuge nur 60 Tage pro Jahr genutzt, an den restlichen 300 Tagen steht der PKW ungenutzt. In Deutschland gibt es bisher nur eine Car-Sharing-Genossenschaft – die StattAuto eG in Lübeck und Kiel. 400 Mitglieder und über 2.400 Nutzer können auf 110 Autos an mehreren Standorten in Lübeck und Kiel zugreifen. Zu den Nutzern gehören vor allem Privatpersonen. Aber auch immer mehr Vereine, Freiberufler und kleine Unternehmen, die nur gelegentlich ein Auto benötigen und die Investition sowie die laufenden Kosten eines Autos scheuen.
Modell 4 – Bike-Sharing und Pedelecs
Neben den Zweiradeinkaufsgenossenschaften sind zukünftig auch Bike-Sharing-Modelle vorstellbar, die sich ähnlich organisieren wie Car-Sharing-Unternehmen. Bei den elektrobetriebenen Pedelecs (elektrische Motorunterstützung bei Betätigung der Pedale) ist ebenso an den Ausbau einer Ladestationinfrastruktur zu denken.
Modell 5 – Mitfahrgelegenheiten und Ride-Sharing
Auch wenn Mitfahrgelegenheitsportale bisher mit konventionellen Mobilitätsformen im Widerspruch standen, so ist es doch denkbar, sich die vorhandenen Technologien zu Nutze zu machen. Dies kann beispielsweise durch Kooperationen zwischen Unternehmen und Kommunen und „Social-Mobility“-Netzwerken wie etwa „flinc“ umgesetzt werden. Gerade im Bereich des Mobilitätsmanagements von Firmen beziehungsweise dem betrieblichen Mobilitätsmanagement gibt es erste Ansätze. Die baden-württembergische Firma Vaude nutzte eine Social Mobility App, um das betriebliche Mobilitätsangebot zu flexibilisieren. Interessant könnte gerade in ländlichen Regionen eine Kooperation dieser Art von mehreren Unternehmen und Kommunen sein.
Ausblick
Die baden-württembergische Landesregierung bewegt sich weg von der Entwicklung einer Verkehrs- hin zu einer Mobilitätsstrategie. Sie will damit den sich stetig ändernden Bedürfnissen einer immer komplexer werdenden Gesellschaft Rechnung tragen. In diesem innovationsfreundlichen Klima, das auch das Engagement von Bürgern ausdrücklich unterstützt, können Genossenschaften dazu beitragen, die Mobilität einer Region maßgeblich mitzugestalten und nachhaltig zu verändern. Ausgehend von der historisch gewachsenen Anpassungs- und Leistungsfähigkeit sowie der Eigenschaft ihrer Mitglieder, alternative und innovative Lösungen zu finden, können Genossenschaften bei der Bewältigung der Herausforderungen, die das veränderte Mobilitätsverhalten und der demografische Wandel vor allem im ländlichen Raum mit sich bringen, eine tragende Rolle spielen.