Die deutschen Genossenschaften haben aufgrund der historischen Entwicklung des Genossenschaftswesens sowie der hohen Bedeutung der genossenschaftlichen Unternehmensform für Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland weltweit Vorbildcharakter. Der Deutsche Genossenschafts- und Raiffeisenverband – DGRV koordiniert die Auslandsaktivitäten der genossenschaftlichen Organisation und unterstützt, gefördert durch die Bundesregierung, beim Aufbau und der Stärkung genossenschaftlicher Systeme in über 30 Ländern auf allen Kontinenten. Dadurch leistet der DGRV nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung der entwicklungspolitischen Ziele Deutschlands und der Vereinten Nationen. Auch die Rechts- und Unternehmensform Genossenschaft gewinnt durch diese internationalen Kooperationen bei Fragestellungen nach der Gestaltung von zukunftsgerichteten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen sowie angemessenen regulatorischen Rahmenbedingungen stetig an Bedeutung.
Der BWGV und die Genossenschaften in Baden-Württemberg unterstützen von Beginn an die internationale Arbeit des DGRV. Seit Jahrzehnten besuchen jedes Jahr zahlreiche Delegationen aus allen Ländern der ganzen Welt den Verband und seine Mitglieder. Experten des BWGV unterstützen seit vielen Jahren die Projektarbeit sowohl als Kurzzeiter, aber auch als entsandte Projektmitarbeiter. Seit einiger Zeit fördern die Mitglieder des BWGV auch über die Stiftung GESTE Baden-Württemberg zielgerichtet genossenschaftliche Initiativen. Die Vielzahl der Kontakte und der Erfahrungsaustausch sollten dabei aber nicht nur kurzfristig für die Erweiterung unserer regionalen Perspektive sorgen. Vielmehr sollten die Genossenschaften in der Zukunft das Potenzial ihrer internationalen Netzwerke noch viel stärker nutzen, um besser auf die richtungsweisenden Prozesse und Entscheidungen internationaler Standardsetter und Organisationen einwirken zu können.
Mexikanische Genossenschaften für finanzielle Inklusion
Der Besuch von Präsident Dr. Roman Glaser in Mexiko war sicher ein weiterer Schritt in diese Richtung.Mexiko und Deutschland haben nicht nur wegen der Produktion des legendären VW-Käfers in Puebla eine langjährige erfolgreiche Handelsbeziehung. Sie sind als G20-Mitglieder wichtige Partner und Verbündete in vielen gemeinsamen Anstrengungen zur Erreichung internationaler Vorhaben wie beispielsweise dem Klimaschutz. Auch bei der Bedeutung der Genossenschaften für wichtige Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft finden sich zahlreiche Gemeinsamkeiten. Der Zugang für Kleinunternehmer zu adäquaten Finanzdienstleistungen ist in Mexiko bisher beispielsweise nicht flächendeckend gewährleistet. Die Genossenschaften leisten sowohl bei der finanziellen Inklusion als auch bei der Finanzierung von Kleinbauern einen anerkannt wichtigen Beitrag.
Die Spar- und Kreditgenossenschaft (SKG) Acreimex aus Oaxaca, einer mittelgroßen Stadt etwa 500 Kilometer südlich der Hauptstadt Mexiko-Stadt, die gleichzeitig Landeshauptstadt des gleichnamigen und eines der ärmsten Bundesländer ist, schafft hier Abhilfe. Innerhalb von wenigen Jahren wurden für inzwischen über 140.000 Mitglieder – 2007 waren es noch unter 35.000 - ein anspruchsvolles Portfolio an Finanzdienstleistungen und 45 Servicecentern geschaffen. Damit diese rasante Entwicklung durch ein gesundes organisches Wachstum begleitet werden konnte, unterstützt der DGRV in Mexiko die SKG durch technische Beratung in Governance, Kontrollsystemen, Risikomanagement, aber auch bei der Schulung der Kleinunternehmer durch ein modernes Blended-Learning-Konzept. Glaser konnte sich am ersten Tag der Geno-Tour von den Dienstleistungen und der Entwicklung der SKG vor Ort bei einem Besuch in Oaxaca überzeugen. Bei einer spannenden Diskussion mit Vertretern der Geschäftsleitung und der Gremien wurden aber auch Herausforderungen im Umgang mit den Regulierungs- und Aufsichtsbehörden angesprochen. Die Feststellung von Präsident Angel Rey Espinozaa, dass in Mexiko Theorie und eine angemessene Aufsichtspraxis in einigen Fällen wie zum Beispiel exzessiven Informationspflichten noch zu wünschen übrig lässt, konnte auch der Präsident des BWGV für Deutschland und Europa nicht von der Hand weisen.
Austausch mit mexikanischen Parlamentsabgeordneten
Angemessene rechtliche Rahmenbedingungen für die Tätigkeit der Genossenschaften in Mexiko und Deutschland standen am zweiten Tag der Geno-Tour im Mittelpunkt eines Austauschs mit Abgeordneten des mexikanischen Parlaments. Die Vorsitzende des Ausschusses zur Förderung der Genossenschaften und der Sozialwirtschaft, Norma Xochitl Hernandez Colin, die im Juni 2017 mit einer mexikanischen Delegation nicht nur den BWGV, die Volksbank Kirchheim-Nürtingen sowie die Bürgerenergiegenossenschaft Ostfildern besucht, sondern auch am Genossenschaftstag in Ulm teilgenommen hatte, lud neben der BWGV-DGRV-Delegation auch Vertreter des mexikanischen Genossenschaftssektors zu einem Arbeitsfrühstück in den Kongress ein. Es wurde hinsichtlich der Rechtsform Genossenschaft in dieser Runde aber durchaus auch kontrovers diskutiert, insbesondere was die unternehmerische Ausrichtung und die Abgrenzung zur Sozialwirtschaft angeht. In jedem Fall sollten diese Kontakte mit den Parlamentariern im Rahmen eines internationalen Modells der genossenschaftlichen Interessenvertretung ausgebaut und genutzt werden.
Einer schweren Bergetappe gleich wurden an diesem Tag noch weitere aufschlussreiche Zusammenkünfte mit den Partnern des DGRV-Projekts in Mexiko absolviert. Nach dem Besuch des Parlaments und einem kurzen Besuch des DGRV-Büros in Mexiko-Stadt stand ein Erfahrungsaustausch mit dem nationalen Dachverband der SKG in Mexiko, der Concamex, auf dem Programm. Concamex vertritt die Interessen der Finanz-Genossenschaften und ist wie der BVR in Deutschland erster Ansprechpartner der Finanzmarktaufsicht. Für Concamex waren neben den regulatorischen Herausforderungen vor allem die Ausführungen von Glaser zur Organisation der Interessenvertretung der Genossenschaftsbanken in Deutschland durch den BVR und die Regionalverbände sehr gefragt.
Zum Ausklang wurde mit ANEC, einem Dachverband von kleinbäuerlichen Organisationen mit genossenschaftlichen Strukturen, ein Workshop zur Frage der Nachhaltigkeit und Effizienz von Integrationsmodellen veranstaltet. Neben den unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Ausgangslagen hierzu in Mexiko und Deutschland – Pflichtmitgliedschaft und Pflichtprüfung seien hier stellvertretend genannt – wurde mit Vertretern der genossenschaftlichen Mitglieder lebhaft über Erfolgsfaktoren und Erfolgsgeschichten diskutiert.
Erstes Zukunftsforum Genossenschaft in Mexiko
Das erste Zukunftsforum Genossenschaft in Mexiko war bei der Geno-Tour dann die Königsetappe. Hochrangige Vertreter aus Wirtschaft, Politik, den Entwicklungsbanken und dem Bildungssektor referierten am Vormittag vor zahlreichen Repräsentanten der Genossenschaften über relevante Zukunftsthemen. Neben Glaser berichteten die Kolleginnen Elena Uriostegui und Susanne Guamba von der ADG in einer Videokonferenz über Erfahrungen bei der Entwicklung von genossenschaftlichen Ausbildungssystemen und stellten die ersten Ergebnisse des gemeinsamen Projekts dazu in Mexiko vor. Am Nachmittag wurde in drei Fachforen mit den Teilnehmern über konkrete Erfahrungen und strategisch wichtige Weichenstellungen bei der finanziellen Inklusion, der Entwicklung ländlicher Räume mit und der Ausbildung bei Genossenschaften diskutiert. Neben den fachlichen Aspekten wurde aber vor allem auch die Gelegenheit zum Austausch und Kennenlernen auch bisher nicht bekannter Akteure aus dem Genossenschaftssektor von den Teilnehmern intensiv genutzt. Die Veranstaltung endete mit einem ersten kleinen Schreck in Form eines ersten Erdbebenalarms. An diesem Abend war glücklicherweise aber noch nichts zu spüren und so konnte am nächsten Tag wie geplant auch der Besuch der Genossenschaftsstadt von Cruz Azul unternommen werden. Um die Produktionsgenossenschaft Cruz Azul, die im nationalen Markt unter den größten drei Zementproduzenten agiert, haben sich insgesamt sechs weitere Genossenschaften, unter anderen eine Transport- sowie eine Spar- und Kreditgenossenschaft, formiert. Zwischen der von Glaser angeführten Delegation des DGRV und des BWGV kam es neben den Besuchen der Fabrik und der SKG Finagam auch zu einem angeregten Meinungsaustausch über die Herausforderungen für die Warengenossenschaften und deren Strukturen.
In diesen vier intensiven Tagen des gegenseitigen Kennenlernens zwischen den mexikanischen und deutschen Genossenschaften wurden viele Ideen entwickelt, die als Grundlage für eine Fortsetzung des Austauschs dienen können, und dies auch über die Projektarbeit des DGRV hinaus, zum Vorteil und der weiteren Vernetzung der Genossenschaften weltweit.
Nach den Erdbeben hat sich der mexikanische Genossenschaftssektor an den zahlreichen Hilfsmaßnahmen beteiligt und nun gilt es zu überlegen, inwiefern genossenschaftliche Selbsthilfeprojekte zum Wiederaufbau und der Wiederaufnahme von Kleinstbetrieben der marginalisierten Bevölkerung genutzt werden können, gerade in den folgenden schwierigen Monaten, wenn die mediale internationale und nationale Aufmerksamkeit nachgelassen hat.
Aus Baden-Württemberg für Mexiko, Zentralamerika und Kuba
Der Autor dieses Beitrags Steffen Müller ist seit Ende 2016 Projektleiter für Mexiko, Mittelamerika und Kuba des DGRV – Deutscher Genossenschafts- und Raiffeisenverband e.V. Der langjährige Lateinamerika-Experte des DGRV und des BWGV leistet mit seiner engagierten und vielfältigen (Vernetzungs-)Arbeit zusammen mit Jasmin Renz, die Mitte 2016 vom BWGV ins DGRV-Projekt nach Mexiko wechselte, einen wichtigen Beitrag zur Stärkung wettbewerbsfähiger Strukturen im Genossenschaftssektor der Projektländer. Dazu gehören auch transatlantische Delegationsbesuche.