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„Die Zeit war einfach reif“ – Interview mit Gerhard Schorr zu zehn Jahre Fusionsbeschluss und über sein Berufsleben

Verbändefusion BWGV Ruhestand Gerhard Schorr
BWGV-Archiv

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Gerhard Schorr, BWGV, im Interview
„Das Standing des Verbands hat als BWGV deutlich zugenommen. Im genossenschaftlichen Verbund werden wir sowohl auf der Waren- als auch auf der Bankseite als starker regionaler Verband wahrgenommen.“

Der 23. Oktober 2008 war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte des südwestdeutschen Genossenschaftswesens. An diesem Tag fanden zeitgleich in Rastatt und Stuttgart außerordentliche Mitgliederversammlungen der beiden Regionalverbände BGV und WGV statt. Gerhard Schorr ist das Vorstandsmitglied, das zehn Jahre nach den historischen Verschmelzungsbeschlüssen zum BWGV immer noch im Amt ist. Zum Jahresende 2018 geht Schorr nach mehr als 38 Jahren im Dienste der genossenschaftlichen Idee in Ruhestand. Die Geno-Graph-Redakteure Gunter Endres und Thomas Hagenbucher haben sich mit dem Verbandsdirektor über die damalige Zeit der Verbändefusion, die Entwicklung seitdem und seine Gefühlslage so kurz vor dem Ruhestand unterhalten.

In der WGV-Mitgliederzeitschrift, Ausgabe Dezember 2008, stand in der Berichterstattung über die beiden Versammlungen zu lesen: „Verbandsdirektor Gerhard Schorr sprach von einem Gänsehautgefühl, an das er noch lange zurückdenken werde.“ Herr Schorr, denken Sie jetzt, zehn Jahre später, noch gelegentlich an Ihr Gefühl von damals?

Ja, das kann ich durchaus bestätigen. „Gänsehautgefühl“ ist zwar eine ungewöhnliche Formulierung; sie trifft aber durchaus den Nerv dieser speziellen Veranstaltung.

Der Verschmelzungsbeschluss in der BGV-Versammlung erfolgte mit 100 Prozent Zustimmung. In Stuttgart waren es 99,68 Prozent. 314 von 315 sagten „ja“ zur Verbändehochzeit. Hat Sie die eine Gegenstimme gestört?

Nicht wirklich. Es gab damals eine Gegenstimme – aber das gehört zur demokratischen Rechtsform eines Genossenschaftsverbandes dazu. Ohne es abzuwerten, aber es hatte ja auch keinerlei Relevanz.

Wie war es im Vorfeld um Ihr Nervenkostüm bestellt? Schließlich galt es, jeweils eine Dreiviertel-Mehrheit zu erzielen.

Wie bei jeder wichtigen Veranstaltung ist es gut, bestens vorbereitet zu sein und auch eine gewisse Anspannung zu haben. Aber nervös war ich nicht, ich denke, auch alle anderen Verantwortlichen waren es nicht. Warum? Die Versammlung war sehr gut vorbereitet. Wir hatten alle ein sehr gutes Bauchgefühl bei der Veranstaltung. Und die Zeit war einfach reif für die Fusion.

Anfang der 2000er Jahre war die Verschmelzung zwischen den Verbänden Württemberg und Bayern akut – und wurde wieder abgeblasen. Die „natürlichen Partner“ im Bundesland Baden-Württemberg benötigten vom Gründungsjahr des Landes gerechnet 56 Jahre, um zusammenzufinden. Eine sehr lange Zeit. Welche Befindlichkeiten steckten dahinter?

Verbändefusion zum BWGV
Das Auftakttreffen der Vorstände von BGV und WGV zur operativen Vorbereitung der Fusion fand am 14. Januar 2008 statt: (v.l.) Erwin Kuhn, damaliger Vorstandsvorsitzender des WGV, Gerhard Roßwog, damaliger Vorstandssprecher des BGV und nach der Verschmelzung der Verbände 2009 erster Präsident des BWGV, WGV und dann BWGV-Vorstandsmitglied Gerhard Schorr und Herbert Schindler, ehemals Vorstandsmitglied des BGV und dann des BWGV.

Als Franke bin ich vielleicht prädestiniert, Befindlichkeiten von Badenern und Württembergern halbwegs neutral und unbefangen einschätzen zu können. Ich denke, auch wenn sich die sogenannten Befindlichkeiten im Laufe der vergangenen Jahrzehnte verringert haben: Dieses Baden-Württemberg ist schon etwas ganz Spezielles. 56 Jahre sind eine lange Zeit, keine Frage. Aber der genossenschaftliche Verband ist bis heute nicht allein bei dieser nicht ganz einfachen Aufgabenstellung, Baden und Württemberg zu vereinigen. Es gibt eine ganze Reihe bedeutender Vereinigungen, die eine Bündelung der Kräfte bis heute nicht geschafft haben. Von daher ist es umso erfreulicher, dass uns dies vor zehn Jahren gelungen ist.

Wie empfanden Sie im Vorfeld die Gespräche auf Vorstandsebene zwischen Karlsruhe und Stuttgart?

Ich denke, am Anfang war es für alle ein komisches Gefühl. Aber dann waren die Gespräche sehr effizient und effektiv, sehr zielgerichtet und auch relativ straff geführt. Wir waren uns in den beiden Vorstandsgremien und in den Präsidien über die Kernpunkte doch sehr schnell einig.

Waren die jeweiligen Gremien Treiber der Fusion? Wie hat sich der ganze Prozess entwickelt?

Die Präsidien der beiden Verbände waren sehr stark eingebunden. Einige Runden fanden auch gemeinsam statt. Das Zusammenspiel von Vorstand und Präsidium auf beiden Seiten hat sehr gut funktioniert. Es gab sehr wohl Diskussionen, aber die „Big-five“-Fragen waren sehr schnell klar: Zum Beispiel: In welche Richtung fusioniert man? Hier war die Antwort: eine Neugründung, was schon ein besonderer Akt war. Sitz und Name des neuen Verbands sowie die Vorstandsbesetzung und die Gremienbesetzung konnten ebenfalls zügig geklärt werden.

War die Firmierung des neuen Verbands ein Thema?

Ja und nein. Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht, ob der doch etwas sperrige Begriff Baden-Württembergischer Genossenschaftsverband e.V. der richtige ist oder ob man variieren sollte. Am Ende war dann aber klar, dass es der richtige und auch eingängige Name für einen landesweiten Genossenschaftsverband ist. Es gab – bei allen Drehungen, die man vornehmen kann – keine ernsthafte Alternative zum BWGV.

Mussten Sie viel Überzeugungsarbeit bei den beschließenden Mitgliedern leisten?

Geno Graph im Interview mit Gerhard Schorr, BWGV
„Auf was ich mich schon freue, ist der Wegfall dieser extremen Taktung des Tages, der Woche, des Monats und des Jahres.“

Es war differenziert. Nach meinen Beobachtungen waren die Banken – in Baden und in Württemberg – doch sehr, sehr weit in der Forderung, nun endlich einen BWGV zu schaffen. Auf der gewerblichen Seite war in etwa das gleiche Bild zu beobachten. Am meisten Emotionen und Verbundenheit mit den Altverbänden gab es sicherlich in der Landwirtschaft. Etwa in der Weinwirtschaft hatten wir einiges an Diskussion und auch Klärungsbedarf. Aber unterm Strich war in sehr großen Teilen der Mitgliedschaft die Erkenntnis gereift, dass 2008 die Zeit gekommen war, um die beiden Verbände zu fusionieren.

Können Sie sich noch daran erinnern, wo Sie am 2. März 2009 waren?

Ich meine in Fellbach – beim letzten Verbandstag des WGV. Anders als bei den Fusionsabstimmungen im Oktober des Vorjahres war dies eigentlich nur noch ein vollziehender Akt, also den Jahresabschluss zu genehmigen, um die rechtliche Voraussetzung für die Fusion zu schaffen. Aber trotzdem war es noch einmal ein ganz besonderes Gefühl an diesem Tag.

Tags darauf waren Sie in Rust …

… beim letzten Verbandstag des BGV. Hier waren die Emotionen schon stärker, man konnte die Wehmut auf badischer Seite praktisch mit Händen greifen. Besonders emotional im positiven Sinne war dann das gemeinsame Singen des Badnerlieds. Hier spürte man nochmals die volle Inbrunst und das Bewusstsein, dass es der letzte Akt des Badischen Genossenschaftsverbands war.

Wie empfanden Sie die Arbeit der internen Arbeitsgruppen, die die Verschmelzung operativ vorbereiteten? Schließlich galt es, zwei Häuser mit unterschiedlichen Strukturen, Arbeitsweisen und Kulturen zusammenzuführen.

Der gesamte Prozess war ausgesprochen professionell und sehr gut organisiert. Es gab aber durchaus auch Emotionen, die absolut verständlich sind. Die Mitarbeiter haben gespürt, dass Neues gefragt ist, dass sie von alten Gewohnheiten Abstand nehmen müssen. Auch gab es Ungewissheiten, was die Standorte angeht oder auch Strukturen, die oft über viele Jahrzehnte aufgebaut worden sind. Hier waren schon auch starke Emotionen im Spiel. Aber das ist bei solch einem Prozess sicher normal.

Wie lautet ihr Fazit zehn Jahre nach der Fusion? Wurden Sie positiv oder negativ überrascht?

Es gab positive wie negative Überraschungen. Unterm Strich ziehe ich aber eine positive Bilanz: Positiv überrascht war ich von der Geschwindigkeit, mit der Mitglieder und Mitarbeiter zusammengewachsen sind – auf beiden Seiten. Etwas unterschätzt haben wir aber den Kraftakt, den die Fusion für die Organisation darstellt. Damit meine ich den Aufbau einer schlagkräftigen Verbandsorganisation als BWGV – kommend von zwei eingeschwungenen Altverbänden BGV und WGV. Das hat doch recht lange gedauert.

Haben wir als genossenschaftliche Organisation in Baden-Württemberg durch die Verschmelzung an Bedeutung gewonnen? Werden wir nun besser wahrgenommen?

Das Standing des Verbands hat als BWGV deutlich zugenommen. Im genossenschaftlichen Verbund werden wir sowohl auf der Waren- als auch auf der Bankseite als starker regionaler Verband wahrgenommen. Wir sind personell besser denn je in den Gremien des Verbunds verankert und unsere Meinung ist gefragt. Im Land Baden-Württemberg sind wir als BWGV ebenfalls so gut vernetzt wie nie zuvor – mit anderen Verbänden und mit der Politik – natürlich parteiübergreifend. Wir haben eine hervorragende Vernetzung geschaffen, und auch die öffentliche Wahrnehmung des gemeinsamen Verbands ist deutlich besser als vor der Fusion.

Was waren aus Ihrer Sicht die zentralen Meilensteine in den zehn Jahren seit der Fusion zum BWGV?

Die Arbeiten an einem Leitbild, an Führungsgrundsätzen und an der Strategie des Verbands waren ganz wichtige Weichenstellungen, um zu definieren: Wer sind wir als BWGV? Das war sicher ein ganz zentraler Meilenstein zu Beginn, der uns im Übrigen bis heute beschäftigt. Das Standort-Konzept mit der Verdichtung der Verwaltung im Stuttgarter GENO-Haus und der Konzentration der Bildungsaktivitäten auf die Akademie in Karlsruhe-Rüppurr war ebenfalls ausgesprochen wichtig für uns – auch wenn dies verständlicherweise nicht nur Freude ausgelöst hat.

Wie sehen Sie den BWGV aktuell aufgestellt?

Der BWGV ist gut aufgestellt, ein gut organisierter Verband. Es gilt aber wie immer im Leben: Das Bessere ist der Feind des Guten. Die Arbeit wird weitergehen. Ich bin sicher, dass die beiden Vorstandskollegen Monika van Beek und Dr. Roman Glaser nicht nachlassen werden, den Verband weiter umzubauen – nicht im Sinne von Hektik und Aktionismus, sondern weil in Zukunft sicherlich noch weiterer Optimierungsbedarf auf der Tagesordnung stehen wird.

Was werden die wichtigsten Herausforderungen in den kommenden Jahren sein?

Hierbei ist entscheidend, welche Herausforderungen auf unsere Mitglieder zukommen werden. Das sind natürlich die Digitalisierung mit ihren disruptiven Auswirkungen auf die Geschäftsmodelle von Genossenschaften, die Demographie, die wir bei der Suche nach Fachkräften auch beim Verband spüren, und alle Fragen, die sich rund um Europa, Euro-Zone und Brexit herum auftun. Auch der Wertewandel in der Gesellschaft betrifft zum Teil die Genossenschaften und damit direkt und indirekt auch den Verband.

Wie wird der BWGV in zehn Jahren aussehen?

(lacht) Das ist ja fast schon die 1-Million-Frage. Zehn Jahre sind ein sehr großer Zeitraum, realistisch planbar ist eher eine Zeit von bis zu drei Jahren. Ich bin aber sicher, dass der BWGV auch in zehn Jahren noch eine Bedeutung haben wird, ein Standing und damit auch eine Existenzberechtigung – freilich ohne dass er sich als Selbstzweck definiert. Der BWGV ist gut aufgestellt. Es gibt noch sehr viele wichtige Aufgaben, die vor ihm liegen – auch als eigenständiger Regionalverband. Die genossenschaftlichen Verbände sollten es mit der Konzentration keinesfalls übertreiben. Den einen bundesweiten Prüfungsverband sehe ich aus vielerlei Gründen nicht. Es wird sich aber sicherlich weiter viel verändern. Die Verantwortlichen und Mitarbeiter des BWGV sollten mit Selbstbewusstsein und ohne Angst in die Zukunft blicken und beherzt ihre Aufgaben angehen.

Ihr letztes Quartal als Verbandsdirektor hat begonnen – nach mehr als 38 Jahren im Dienste der Genossenschaften. Erlauben Sie uns einen Blick in Ihre Gefühlswelt?

Auch das noch?! (lacht) Wehmütig bin ich nicht. Aber ich spüre schon eine gewisse Dankbarkeit für die Aufgaben, denen ich mich stellen durfte. Die Fülle an Themen und Aufgaben, mit denen ich mich in den vergangenen Jahren in führender Position beschäftigen konnte, führen bei mir zu einem Gefühl großer Zufriedenheit. Daran denke ich sehr gerne zurück.

Was haben Sie sich für den Ruhestand alles vorgenommen? Laufen die Planungen bereits?

Auf was ich mich schon freue, ist der Wegfall dieser extremen Taktung des Tages, der Woche, des Monats und des Jahres. Das durch den Kalender fremdbestimmt sein abstreifen zu können, ist ein sehr gutes Gefühl – auch wenn ich es nie als Stress empfunden habe. Planungen unternehme ich keine, ich sehe eher Cluster, Ideen, Projekte, an denen ich mich erfreuen kann. Ich will Neues wagen – auch und gerade im neuen Lebensabschnitt. Ich möchte neue Reiseziele entdecken, neue Bücher lesen – Sprachen neu entdecken: Spanisch, Englisch. Das Deutsch weiter pflegen – auch in Schriftform. Und auch die Banken-Regulatorik wird mich in den kommenden Jahren noch interessieren. Befreit von den Pflichten eines Verbandsdirektors kann das Thema auch weiterhin seine Reize haben.

Das heißt, ein weiteres Standardwerk aus Ihrer Feder?

Schaumermal. (lacht)

Welche Reiseziele stehen auf der Agenda?

Jede Menge. Die Welt ist ja sehr vielfältig. Einige Ziele möchte ich mit Marathon-Läufen verbinden, die ja bekanntermaßen seit drei Jahrzehnten meine Leidenschaft sind. In meiner Sammlung fehlen noch die Läufe in Boston oder Tokio sowie in China entlang der Mauer …

Wird die Taktung bei den Läufen erhöht?

Das möchte ich heute noch nicht festlegen. Es wäre nicht klug, alte Abhängigkeiten durch neue zu ersetzen. Ich werde einfach meinen Körper fragen und das machen, was sinnvoll erscheint.

Haben Sie einen letzten Ratschlag, den Sie den Verantwortlichen im Verband und in unseren Genossenschaften mit auf den Weg geben wollen?

Bei aller Wertschätzung dem „Geno Graph“ gegenüber, aber meine Ratschläge werde ich nicht über dieses Magazin erteilen. Ich habe jedoch vor, am 13. Dezember, also in meiner letzten Verbandsratssitzung, um das Wort zu bitten. Und dann möchte ich einige abschließende Gedanken zur Verbandsorganisation und zu ähnlich grundlegenden Fragen äußern. Diese werden sicherlich nicht nur in diesem Gremium bleiben.

Letzte Frage: Was wird Ihnen ohne den BWGV am meisten fehlen?

Da wird schon eine Menge fehlen, vor allen Dingen die vielen Gespräche mit Menschen – mit den Mitarbeitern im BWGV, mit Mitgliedern, Mandanten und Kunden. Ganz besonders genossen habe ich immer die „Kaffeegespräche“ direkt mit den Mitarbeitern aus den verschiedenen Bereichen. Diesen unmittelbaren persönlichen Austausch werde ich sicher vermissen.

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