Herr Dr. Glaser, worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Sie an Ihren bevorstehenden Ruhestand denken?
Ich bin neugierig! Neugierig, was mir die neu gewonnene Zeit bringen wird. Ich strebe weiterhin sinnstiftende Tätigkeiten an. Die Genossenschaftsidee ist und bleibt mein Leben; aber etwas mehr Spontaneität im Alltag zu haben, darauf freue ich mich.
Gibt es etwas, was Sie sich vorgenommen haben? Etwas, für das Sie sich endlich einmal Zeit nehmen wollen?
Meine Frau und ich haben uns vorgenommen, dass wir uns über die Frage, wie wir den Alltag gestalten wollen und was wir uns vornehmen, dann intensiv Gedanken machen, wenn ich beim BWGV ausgeschieden bin. Jetzt habe ich das Ziel, möglichst nichts liegen zu lassen, was ich noch angestoßen habe. Darüber hinaus möchte ich meinen Nachfolger Dr. Theileis rasch in die vielfältigen Netzwerke der genossenschaftlichen Organisation einführen, um ihm auch auf diesem Wege einen guten Start zu ermöglichen. Und dann wird neu sortiert.
Blicken wir zurück. Welches Erlebnis in Ihrer Amtszeit war für Sie besonders einprägsam?
Das einprägsame Erlebnis gibt es nicht. Die vergangenen elf Jahre waren unglaublich facettenreich. Es gab eigentlich nie eine Woche, die einfach so hingeplätschert ist. Ganz im Gegenteil. Die Zeit war ausgefüllt von ungemein vielen spannenden Begegnungen mit Menschen und geprägt von hochinteressanten Projekten unserer Genossenschaften. Hinzu kommt, dass wir uns auch im Verband selbst einiges vor die Brust genommen haben, was gefordert hat. Selbstverständlich waren das auch nicht nur angenehme Tage, und es gab nicht nur Sonnenschein, so wie überall im Leben. Kurzum: Es war das gesamte Spektrum in seiner Vielschichtigkeit der Aufgaben und Themen, das ich erleben durfte, sodass ich jetzt im Rückblick sagen muss: Wo sind diese elf Jahre nur hin? Ein Ereignis möchte ich aber doch herausstellen: Das Raiffeisen-Jahr 2018, in dem deutschlandweit der 200. Geburtstag des Genossenschaftspioniers Friedrich Wilhelm Raiffeisen gefeiert wurde, nahm der baden-württembergische Landtag am 1. Februar 2018 zum Anlass einer Plenardebatte, in der fraktionsübergreifend die enorme Bedeutung der Genossenschaften für den Wirtschaftsstandort Baden-Württemberg herausgestellt wurde. Das war etwas, was unseren Genossenschaften und auch dem Verband eine besondere politische und öffentlichkeitswirksame Bedeutung verliehen hat. Das wirkt bis heute nach.
Erinnern Sie sich an etwas, das besonders herausfordernd war?
Die Corona-Pandemie. Und damit meine ich nicht nur die daraus unmittelbar resultierenden Herausforderungen und Aufgaben. Vielmehr hat Corona auch im BWGV deutlich Handlungsfelder aufgezeigt, die wir – aus heutiger Sicht – vielleicht auch schon ein, zwei Jahre früher hätten angehen können, da wir es dann möglicherweise leichter gehabt hätten. Als Beispiel nenne ich die Auslagerung von Bildungs- und Beratungskapazitäten in größere Einheiten, um für unsere Mitgliedsgenossenschaften unsere Leistungsfähigkeit zu steigern. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt die Weichen für die Zukunft gestellt haben und wesentliche Arbeitsfelder zukunftsgerichtet weiterentwickeln werden, wobei wir uns in einem dynamischen Umfeld niemals zurücklehnen dürfen.
Lassen Sie uns einen Vergleich ziehen: Was waren bei Ihrem Amtsantritt die Herausforderungen für unsere Genossenschaften und was sind jetzt die Herausforderungen für Ihren Nachfolger?
Das ist sicherlich branchenspezifisch unterschiedlich. Wenn wir uns beispielhaft den Bankensektor anschauen, sehen wir eine überbordende Regulatorik und die Folgen der politisch motivierten Niedrigzinsphase, die gerade unsere mittelständisch geprägten Volksbanken und Raiffeisenbanken vor immense Herausforderungen gestellt hat. Generell war die zurückliegende Dekade stark von Megatrends und Krisen geprägt – und daran wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch so schnell nichts ändern. Das hat mit uns allen etwas gemacht – mit uns als Menschen und damit auch mit unseren Genossenschaften. Im landwirtschaftlichen und im gewerblichen Bereich haben die Diskussionen um Nachhaltigkeit, um Klimawandel oder um gesellschaftliche Ansprüche an die Nahrungsmittel- und Energieerzeugung neue, teils massive Herausforderungen mit sich gebracht, die durchaus auch ganze Geschäftsmodelle auf den Prüfstand stellen. Von außen angestoßene, also exogene Entwicklungen, haben in einer ungekannten Massivität und Geschwindigkeit große Einflüsse auf die Wirtschaft und damit auch auf die Genossenschaften. Dies erfordert vor allem eines: noch schnellere Entscheidungen. Wir haben in aller Regel kein Erkenntnisproblem, sondern es geht darum, wie wir es schaffen, angemessen und möglichst schnell auf erkannte Handlungsfelder zu reagieren und notwendige Maßnahmen rasch in die Umsetzung zu bringen, ohne dabei die notwendige Sorgfalt zu verlieren. Denn Hektik war noch nie zielführend. Aber die Veränderungsgeschwindigkeit und die Notwendigkeit, diese exogenen aber natürlich auch selbst angestoßenen, endogenen Herausforderungen schneller anzupacken und erarbeitete Lösungen umzusetzen, das ist schon ein Unterschied zu vor zehn Jahren.
»Auf diese Krisenpermanenz müssen wir uns einstellen. Dabei sollten wir jedoch niemals unsere Zuversicht und unseren Optimismus zu Grabe tragen.«
Und welche Thematik war für sie persönlich besonders herausfordernd?
In den vergangenen Jahren rückten Themen – bekannte wie neue – mit einer ungeheuren Wucht in den Mittelpunkt, die von Wirtschaft und Gesellschaft ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft einfordern. Ein Beispiel: Die Auswirkungen des Klimawandels und die Anforderungen an mehr Umweltschutz, Nachhaltigkeit und Biodiversität haben in vielen Branchen einen tiefgreifenden Transformationsprozess ausgelöst. Dies geht auch einher mit politischen und gesellschaftlichen Verhärtungen. Es sind komplexe Themen. Einfache Antworten und Lösungen gibt es nicht.
Hinzu kommt die schnelle Abfolge zahlreicher Krisen in den vergangenen Jahren – allen voran der schreckliche Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine mit allen nachgelagerten Folgen auch für unser Land. Es ist nicht so, dass die Krisen zu Ende gehen, und dann ist alles wieder wie früher. Auf diese Krisenpermanenz müssen wir uns einstellen. Dabei sollten wir jedoch – und dies ist mir sehr wichtig – niemals unsere Zuversicht und unseren Optimismus zu Grabe zu tragen. Mich persönlich trägt dabei nicht zuletzt auch Gottvertrauen.
Lassen Sie uns noch ein wenig in die Zukunft schauen. Gehen Sie eigentlich „ganz“ in den Ruhestand oder sind Sie für spannende Aufgaben offen?
Zunächst möchte ich ein bisschen durchatmen, mein Berufsleben reflektieren und mich dann auf die kommende Zeit aktiv vorbereiten. Dazu gehört auch die Offenheit für neue spannende Aufgaben.
»Ich war stets neugierig, was kommt. Und das soll auch so bleiben.«
Sie sprachen eingangs von Neugier. So bin ich an jede Aufgabe, die ich in meinem Berufsleben oder in den verschiedenen Lebensabschnitten übernommen habe, herangegangen: Ich war stets neugierig, was kommt. Und das soll auch so bleiben.
Zum 1. Januar übernimmt Dr. Ulrich Theileis das Amt des Präsidenten und Vorstandsvorsitzenden. Was geben Sie ihm mit?
Keine Ratschläge! Denn davon halte ich überhaupt nichts. Sondern einfach und ganz ehrlich einen großen Wunsch: Dass er die Freude und die Vielfalt in diesem Amt erleben darf, wie ich sie erleben durfte.
Sie haben einen großen Erfahrungsschatz bezüglich des Genossenschaftswesens. Worin sehen Sie eine besondere Aufgabe für uns alle in der genossenschaftlichen Gruppe?
Immer wieder das Besinnen auf und die Auseinandersetzung mit der Frage, wie eine Genossenschaft ihren Förderauftrag gegenüber ihren Mitgliedern erfüllen kann. Und welchen Beitrag hierzu die genossenschaftlichen Verbände und damit auch der BWGV leisten können. Dafür gibt es kein Muster und dafür gibt es auch keine allgemein passenden Schubladenkonzepte. Wichtig ist: offen sein sowie von anderen und von Best-Practice-Beispielen lernen. Auch der Austausch von genossenschaftlicher Praxis und genossenschaftlicher Forschung und Lehre ist ungemein hilfreich. All dies wird mehr denn je notwendig sein. Denn wie ich es bei meinem Amtsantritt erwartet habe: Wir erleben eine Renaissance der genossenschaftlichen Idee. Den Satz möchte ich heute sogar noch verstärken: Wirtschaft und Gesellschaft brauchen Genossenschaften dringender denn je, wenn wir das bewährte Modell der Sozialen Marktwirtschaft wieder mit mehr Leben füllen wollen. Die Vielzahl und Vielfalt an Neugründungen von eingetragenen Genossenschaften in den vergangenen zehn Jahren bestärken mich in dieser Einschätzung.
»Was ist der Kern einer Genossenschaft? Worauf müssen wir uns fokussieren? Darüber muss diskutiert werden.«
Heute gibt es in Baden-Württemberg Genossenschaften in rund 50 verschiedenen Branchen. Daher ist es wichtig, sich immer wieder zu fragen: Was ist der Kern einer Genossenschaft? Worauf müssen wir uns fokussieren? Woran müssen wir uns ausrichten? Darüber muss diskutiert werden. Darüber muss auch gestritten werden. Dafür muss es eine konstruktive Reibung durch eine inhaltliche Auseinandersetzung geben.
Was wünschen Sie unserem BWGV-Team?
Möglichst viel Teamgeist, unbedingte Konzentration auf die Unterstützung unserer Mitgliedsgenossenschaften und Freude am täglichen Tun!