Die Corona-Pandemie könnte zu einer erneuten Renaissance von Genossenschaften führen, vermutet der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband (BWGV). „Die Menschen merken jetzt, wie wichtig und wertvoll regional tätige Unternehmen sowie vor Ort erzeugte Produkte und Dienstleistungen sind – in der Landwirtschaft, aber auch in vielen anderen Bereichen. Genau das leisten unsere Genossenschaften“, sagte Dr. Roman Glaser, Präsident des BWGV, anlässlich der Veröffentlichung der Bilanzzahlen für das Jahr. Die Umsätze der 630 (2018: 627) Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften im Südwesten haben im vergangenen Jahr um 2,8 Prozent auf 8,59 Milliarden Euro zugelegt. Das laufende Jahr wird jedoch – wie in praktisch allen Branchen – massiv von Corona überschattet.
„Durch die Pandemie und ihre Auswirkungen erfahren die Menschen gerade sehr viel über die landwirtschaftliche Arbeit und die Notwendigkeit der heimischen Landwirtschaft. Dies sollte zu einer höheren Akzeptanz und Wertschätzung für regional erzeugte Produkte und die Landwirtschaft als Ganzes führen“, sagte BWGV-Präsident Glaser. „Die Bedeutung der regionalen, genossenschaftlich organisierten Landwirtschaft war selten so sichtbar wie heute.“ Daher erhofft er sich durch Corona auch einen langfristigen positiven Effekt für die heimische Landwirtschaft und ihre Genossenschaften, aber auch für genossenschaftlich organisierte Unternehmen anderer Branchen. „Corona kann eine große Chance für unsere Genossenschaften und die genossenschaftliche Idee sein“, ist Glaser überzeugt. Denn neben den nachhaltigen und seriösen Geschäftsmodellen zeichnet diese bewährte Rechts- und Unternehmensform vor allem auch ihre lokale beziehungsweise regionale Ausrichtung aus. Eine Prognose, wie stark die Auswirkungen der Corona-Krise auf die Landwirtschaft letztlich sein werden, wagte der Präsident Anfang Mai noch nicht. Fest steht für ihn nur: „Die gesamte Branche leistet gerade Unvorstellbares. Die Bäuerinnen und Bauern im Land stellen sich mit aller Kraft den Herausforderungen und ihrer Verantwortung, die Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln zu versorgen.“ Darauf verweist auch die neue, sehr gelungene Image-Kampagne „Wir versorgen unser Land“ des baden-württembergischen Landwirtschaftsministeriums, an der sich etliche Genossenschaften aus dem Südwesten beteiligen.
Genossenschaften: Neuer Mitgliederrekord in Baden-Württemberg
Die Zahl der Genossenschaftsmitglieder in Baden-Württemberg legte im vergangenen Jahr um weitere 12.900 auf nun nahezu 3,96 Millionen zu – ein neuer Rekordwert. 14 Genossenschaften sind 2019 in den unterschiedlichsten Feldern gegründet worden, in diesem Jahr war es wegen Corona mit der Tübinger Xäls eG erst eine. Einen Schwerpunkt bei den Gründungen der vergangenen Jahre bilden Genossenschaften im kommunalen Umfeld: Neben der ärztlichen Versorgung stehen Themen wie Mobilität, Betreuung, Pflege, Bildung und die Entwicklung von Stadtquartieren auf der Agenda. Hierfür hat das Landesministerium für Soziales und Integration gemeinsam mit dem BWGV das Förderprojekt „Genossenschaftlich getragene Quartiersentwicklung“ gestartet. Es richtet sich an alle Initiativen und Projekte im Südwesten, die gemeinsam ihr Quartier gestalten und genossenschaftlich verwalten wollen, und bietet diesen professionelle Unterstützung bei der Umsetzung an.
Landwirtschaft: Gute Umsätze in herausfordernden Zeiten
Die 317 landwirtschaftlichen Genossenschaften in Baden-Württemberg haben ihre Umsätze im Jahr 2019 um 4,2 Prozent auf 3,65 Milliarden Euro gesteigert. In der allgemeinen Warenwirtschaft stiegen die Erlöse der 43 Genossenschaften (inklusive des Warengeschäfts der Genossenschaftsbanken) um 2,3 Prozent auf 1,13 Milliarden Euro. Die ZG Raiffeisen eG sowie die Bezugs- und Absatzgenossenschaften (BAG) bringen das Getreide der Landwirte an den Markt, bündeln für diese den Einkauf von Futter- und Düngemitteln und verkaufen Maschinen, Heizöl und Kraftstoffe. Die Genossenschaften unterstützen ihre Mitglieder mit Preisabsicherungsmodellen, die für die Landwirte in einer zunehmend volatilen Situation Risiken begrenzen helfen. „Genossenschaften sind in sämtlichen landwirtschaftlichen Sparten geradezu existenziell wichtig“, betonte Glaser.
Die Umsätze der 21 Obst-, Gemüse- und Gartenbau-Genossenschaften haben sich im Jahr 2019 um 11,9 Prozent auf 491 Millionen Euro erhöht. Die 108 Winzer- und Weingärtnergenossenschaften in Baden-Württemberg legten bei den Umsätzen um 1,6 Prozent auf 537 Millionen Euro zu. Molkereien und Milcherzeuger können ebenfalls auf ein solides Jahr zurückschauen: Die Umsätze der sechs genossenschaftlichen milchverarbeitenden Betriebe stiegen 2019 um 3,4 Prozent auf 825 Millionen Euro. Ein deutlicher Umsatzanstieg um 9,2 Prozent auf 439 Millionen Euro gelang zudem der Viehwirtschaft. Vor dem Hintergrund des anhaltenden Strukturwandels verringerte sich die Zahl der Mitglieder bei landwirtschaftlichen Genossenschaften um 988 auf 97.562.
Gewerbliche Genossenschaften solide unterwegs
Der Gesamtumsatz aller 313 gewerblichen Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften in Baden-Württemberg legte um 1,7 Prozent auf 4,94 Milliarden Euro zu. Die gewerblichen Genossenschaften decken fast die gesamte wirtschaftliche Bandbreite ab – vom Kinderarzt über Handelsgenossenschaften, Kooperationen aus dem Handwerk, Energiegenossenschaften und Dorfläden bis hin zu Kaminbauern, Softwareschmieden und Beratern. Die Zahl der Mitglieder im gewerblichen Bereich stieg im vergangenen Jahr um 2.557 auf 76.650.
Nahezu zwei Drittel des Umsatzes in der Gruppe der gewerblichen Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften entfallen auf die zwölf Genossenschaften des Fachhandels (darunter Intersport und Euronics). Sie verzeichneten einen Umsatzanstieg um 1,1 Prozent auf gut 3,15 Milliarden Euro. Mit einem Umsatzwachstum von 2,2 Prozent auf 1,27 Milliarden Euro war die Entwicklung der 27 Genossenschaften des Handwerks 2019 ebenfalls positiv. 12.040 Handwerksbetriebe in Baden-Württemberg sind bereits genossenschaftlich organisiert.
Die 148 Energiegenossenschaften erwirtschafteten im Jahr 2019 einen Umsatz von 350 Millionen Euro, was einem Plus von 5,3 Prozent entspricht. Hinter den Energiegenossenschaften stehen mittlerweile 39.750 Einzelmitglieder. Der BWGV sieht für Energiegenossenschaften besonders in den Bereichen Nahwärme, Mieterstrommodelle, Elektro-Mobilität und bei Kooperationen untereinander sowie mit Kommunen oder Stadtwerken noch erhebliches Potenzial.
Gesundheitsgenossenschaften als Lösung für drohenden Ärztemangel
Ein besonders spannendes Konzept sind Gesundheitsgenossenschaften wie kooperative Pflegeangebote und -einrichtungen oder genossenschaftliche Ärztehäuser, mit denen unter anderem dem drohenden Ärztemangel insbesondere im ländlichen Raum begegnet werden kann. Praxisgenossenschaften etwa bieten flexible Arbeitszeiten, Angestelltenverhältnisse und Möglichkeiten zur Teilzeit-Beschäftigung für Mediziner sowie geteilten Verwaltungsaufwand. Das ist für junge Medizinerinnen und Mediziner häufig attraktiver als die Selbstständigkeit. „Die qualitativ hochwertige, flächendeckende und ortsnahe medizinische Versorgung ist ein entscheidender Faktor für die Zukunftsfähigkeit der Städte und Gemeinden. Hierbei können Genossenschaften eine wichtige Rolle spielen“, verdeutlichte Glaser.
Besonders gut eignen sich genossenschaftliche Lösungen auch für Herausforderungen in kleinen und mittleren Unternehmen – etwa beim drängenden Thema der Betriebsnachfolge.
„Bereits drei gute Mitarbeiter genügen, um eine Genossenschaft zu gründen und so den Betrieb gemeinsam fortzuführen“, berichtete Glaser. Der bisherige Inhaber kann seinen Betrieb in vertraute Hände geben und benötigt keinen einzelnen Käufer, der alles alleine übernimmt. Zudem besteht die Möglichkeit, dass der bisherige Inhaber etwa für einige Jahre Aufsichtsratsvorsitzender der Genossenschaft wird und den Betrieb und die neue Geschäftsleitung so weiter begleiten kann. Der BWGV sieht in den kommenden Jahren ein enormes Potenzial für Genossenschaftsgründungen zur Nachfolgeregelung beziehungsweise Mitarbeiterbeteiligung. Das trifft vor allem auf das Handwerk zu, in dem der Bedarf besonders hoch ist.
Mehr als 32.000 Menschen im Land arbeiten für Genossenschaften
Die traditionsreiche und vielfach bewährte Rechts- und Unternehmensform der eigetragenen Genossenschaft (eG) verbindet seit weit mehr als 150 Jahren wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Verantwortung. In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der Genossenschaftsmitglieder in Baden-Württemberg um mehr als 500.000 auf knapp 3,96 Millionen angewachsen. Ursache dieser Entwicklung sind viele Neugründungen von Genossenschaften. Zudem werden immer mehr Menschen bewusst Mitglied bei ihrer Volksbank oder Raiffeisenbank. In keinem anderen Bundesland ist die Mitgliederdichte so hoch. Auch gab es im Südwesten noch nie so viele unterschiedliche Genossenschaften wie heute. Die aktuell 798 Unternehmen in der Rechtsform der eG verteilen sich auf rund 50 Branchen. 32.154 Menschen (Ware: 10.832, Banken: 21.322) arbeiten für Genossenschaften.