Verlassen sich die gesetzlich Versicherten in Baden-Württemberg allein auf die staatliche Altersversorgung, erhalten sie nur 47 Prozent ihres letzten Bruttoeinkommens. Um den gewohnten Lebensstandard zu halten, wären jedoch mindestens 60 Prozent nötig. Diejenigen, die zusätzlich für ihr Alter sparen, können aber ihre Rentenlücke schließen. Die Geno-Graph-Redaktion hat beim Studienleiter des „Vorsorgeatlas Deutschland 2021“, Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, und bei Hans Joachim Reinke, dem Vorstandsvorsitzenden von Union Investment, nachgefragt, wie die Menschen in Baden-Württemberg hier aufgestellt sind.
Herr Professor Raffelhüschen, was genau ist der Vorsorgeatlas und was haben Sie untersucht?
Raffelhüschen: Der „Vorsorgeatlas Deutschland 2021“ gibt auf Grundlage verschiedener Mikrodatensätze ein nahezu vollständiges Bild über die zukünftige Situation der Altersvorsorge in Deutschland auf Basis der aktuell geltenden Rahmenbedingungen. So werden neben den „klassischen“ Alterssicherungssystemen der ersten Schicht, also der gesetzlichen Rentenversicherung, der Beamtenversorgung und der berufsständischen Versorgung, sowie der Vorsorgewege der zweiten Schicht wie Riester-Rente, betriebliche Altersversorgung und Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes auch das Geld- und das Immobilienvermögen der Haushalte – die dritte Schicht – betrachtet.
Was ist bei Ihrer Betrachtung für die Menschen in Baden-Württemberg herausgekommen?
Raffelhüschen: Die heute 20- bis 65-jährigen Menschen in Baden-Württemberg, die über die gesetzliche Rente abgesichert sind, erhalten bei Renteneintritt hierüber durchschnittlich 47 Prozent ihres letzten Bruttoeinkommens. Diese sogenannte Ersatzquote liegt deutlich unter der Grenze von 60 Prozent, ab der der während des Arbeitslebens gewohnte Lebensstandard ohne Einschränkungen auch in der Rente gehalten werden kann. Zum Zeitpunkt des Renteneintritts beträgt die durchschnittliche monatliche Rente der gesetzlich Versicherten in Baden Württemberg in heutiger Kaufkraft 1.542 Euro.
Es reicht also nicht, sich allein auf die gesetzliche Rente zu verlassen?
Raffelhüschen: So ist es. Es reicht definitiv nicht, sich auf die erste Schicht und damit in erster Linie auf die gesetzliche Rente zu verlassen. Eine Ausnahme stellen Beamte dar, die im Durchschnitt durch ihre Pensionsansprüche ausreichend versorgt sind.
Die Menschen müssen also mit der zweiten und der dritten Schicht die Versorgungslücke schließen. Gelingt das?
Raffelhüschen: Mit Sparanstrengungen in der zweiten Schicht können die Menschen einen großen Teil ihrer Versorgungslücke schließen. Zu dieser Schicht gehören die Riester-Rente mit bundesweit rund 16 Millionen Verträgen, die betriebliche Altersvorsorge (bAV) mit bundesweit 9,4 Millionen Personen und die Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (ZÖD), die insgesamt von 5 Millionen Menschen genutzt wird. Baden-Württemberger, die über diese Wege zusätzlich vorsorgen, erreichen im Zusammenspiel mit der ersten Schicht eine Ersatzquote von durchschnittlich 64 Prozent.
Reinke: Durch die zusätzliche Vorsorge gelingt im Schnitt eine Sicherung des Lebensstandards im Alter. Selbst die junge Generation, die besonders von den Rentenreformen der Vergangenheit betroffen ist, erzielt aus beiden Schichten im bundesweiten Durchschnitt eine Quote von 65 Prozent, in Baden-Württemberg 66 Prozent.
Wie viele Menschen nutzen denn in Baden-Württemberg die Riester-Rente und was bringt sie denjenigen?
Reinke: Insgesamt 45 Prozent der Riester-Berechtigten in Baden-Württemberg haben mittlerweile einen Vertrag und können damit ihre gesetzliche Rente im Durchschnitt um 14 Prozent des letzten Bruttoeinkommens aufstocken. Damit sind sie genauso gut aufgestellt wie der bundesweite Durchschnitt mit 14 Prozent. Diese Quote sorgt zusammen mit den Ansprüchen aus Schicht 1 im Schnitt für die Sicherung des Lebensstandards. Von der zusätzlichen Vorsorge profitieren übrigens Menschen aller Einkommensschichten. Insbesondere Niedrigverdiener werden vergleichsweise überproportional gefördert. Die Beteiligung von Frauen sowie der 20- bis 34-Jährigen in Baden-Württemberg an der Riester-Rente ist mit 59 beziehungsweise 45 Prozent relativ hoch. Baden-Württembergische Frauen erzielen mit der staatlich geförderten Vorsorge eine Ersatzquote von rund 18 Prozent und liegen damit sogar deutlich über der Quote der baden-württembergischen Männer, die sich auf 9 Prozent beläuft. Die Studie zeigt, dass das System der Riester-Rente sozialpolitisch an der richtigen Stelle ansetzt.
Auch die betriebliche Altersvorsorge ist für viele wichtig, um im Alter gut zurechtzukommen.
Raffelhüschen: Das stimmt. Die bAV ist in der zweiten Schicht der Vorsorgeweg mit der zweithäufigsten Beteiligung. Bundesweit haben rund 19 Prozent der 20- bis 65-Jährigen hierüber Ansprüche und können damit 15 Prozent des letzten Bruttoeinkommens ersetzen. In Baden-Württemberg sind es 23 Prozent, die damit knapp 16 Prozent des letzten Bruttoeinkommens ersetzen können. Wie die aktuelle Studie allerdings zeigt, ist die Verbreitung sehr unterschiedlich. Denn die bAV wird überwiegend von größeren Unternehmen mit entsprechend hohem Lohnniveau aktiv angeboten.
Reinke: Im ‚Vorsorgeatlas Deutschland‘ wird sehr deutlich, dass die bAV zwar eine gute Vorsorgeform ist. Jedoch erreicht sie nicht alle Bevölkerungsschichten.
Was haben Sie bezüglich der dritten Schicht herausgefunden?
Raffelhüschen: Obwohl die Menschen mit Ansprüchen aus Schicht 1 und Schicht 2 im Durchschnitt gut versorgt sind, gilt dies nicht für jeden. So können gut verdienende Personen aufgrund ihrer großen Lücke aus Schicht 1 trotz privater Vorsorge in der zweiten Schicht nur 56 Prozent ihres letzten Bruttoeinkommens ersetzen. Sie müssen daher noch Geld in der dritten Schicht zurücklegen. Unabhängig vom Einkommen gilt hierbei die Erkenntnis: Wer über alle drei Schichten vorsorgt, ist mehr als ausreichend abgesichert und erreicht eine durchschnittliche Ersatzquote von insgesamt 80 Prozent des letzten Bruttoeinkommens.
Sie beiden haben immer wieder Reformen der Altersvorsorge in allen Schichten angemahnt. Bleiben Sie dabei?
Raffelhüschen: Nachdem die 2019 eingesetzte Rentenkommission keine Lösungen gefunden hat, um die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die gesetzliche Rente abzufedern, wird der Handlungsdruck noch größer. Die Rahmenbedingungen der gesetzlichen Rente mit einer Untergrenze des Rentenniveaus bei 48 Prozent sowie einer Deckelung der Beiträge auf 20 Prozent können nicht erhalten bleiben. Bei einem Festhalten an der doppelten Haltelinie über das Jahr 2025 hinaus werden die Defizite der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich steigen. Die Stellschrauben zur Lösung des Problems sind entweder die Erhöhung des Bundeszuschusses oder die Anhebung des Renteneintrittsalters. Ist dies politisch nicht gewollt, bleibt nur die Absenkung des Rentenniveaus oder die Anhebung der Beiträge. Dadurch wird zusätzliche Vorsorge für das Alter noch bedeutender.
Reinke: Die neue Regierung muss sich den Problemen des Rentensystems insgesamt stellen und Reformen vorantreiben. Allerdings dürfte die Durchsetzung der notwendigen Schritte noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Es ist entscheidend, möglichst schnell dort anzusetzen, wo mit wenig Aufwand großer Nutzen zu stiften ist. Dies ist insbesondere in der zweiten und dritten Schicht der Fall. Dann hat die Regierung mehr Zeit, um die großen Reformen der gesetzlichen Rente anzugehen. Die Vorschläge der Finanzindustrie liegen mit dem 5-Punkte-Plan auf dem Tisch. Die Nachjustierungen der Riester-Rente müssen unabhängig von den weiteren Plänen der neuen Regierung allein deshalb schon angegangen werden, um die Altersvorsorge der bestehenden 16 Millionen Riester-Sparerinnen und -Sparer zu verbessern. Eine Einstellung dieses Vorsorgeweges ist keine Option. Das wäre aus meiner Sicht auch die falsche Botschaft an all diejenigen, die sich bereits beteiligen, und könnte deren Alterssicherung etwa durch Betragsfreistellungen gefährden. Die einfachste, am schnellsten umzusetzende und effektivste Maßnahme ist die Flexibilisierung der Garantie. In der dritten Schicht sollte die nächste Regierung Fondssparpläne zur Altersvorsorge mit privaten Rentenversicherungen steuerlich gleichstellen. Auch sollte der Sparerfreibetrag nach rund 13 Jahren endlich an die Bedürfnisse der heutigen Zeit angepasst werden. Damit wird langfristiges Sparen attraktiver. Die Pläne der Koalitionsparteien hierzu gehen in die richtige Richtung.