Springe direkt zum Inhalt , zum Menü .

Genossenschaften im internationalen Kontext

Genossenschaften in Latainamerika
BWGV-Archiv

/

Globalisierung, internationale Finanzströme und der weltweite Warenaustausch haben die Welt verändert. Leider profitieren nicht alle Länder und alle Menschen gleichmäßig. Die Herausforderung besteht darin, allen Chancen für ein eigenständiges und würdiges Leben zu eröffnen. Der Leitspruch von Friedrich Wilhelm Raiffeisen, neben Hermann Schulze-Delitzsch der Begründer des modernen Genossenschaftswesens in Deutschland, „was den Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele“ ist eine gute Basis, einen Lösungsansatz zu finden, der sich weltweit unter unterschiedlichen Bedingungen bewährt hat: Kooperation. Insbesondere in Genossenschaften organisierte und wirtschaftlich ausgerichtete unternehmerische Selbsthilfe.

Sparvereine auf Rotationsbasis

Kooperation und Selbsthilfe gab es schon immer, auf allen Kontinenten und in allen Kulturen. Traditionelle Formen der Selbsthilfe sind gerade auf lokaler Ebene in vielen Ländern bis heute eine wichtige Basis für das tägliche Überleben. Erinnert sei hier an die autochthonen Organisationen von Frauen in Afrika und in Asien, wie an die traditionellen Sparvereine auf Rotationsbasis („tontines“, „Roscas“), die es unter den verschiedensten Bezeichnungen in nahezu allen Ländern Afrikas, aber auch im mittleren Osten und im asiatischen Raum gibt.

Genossenschaften international
Im Dorfladen verkauft die Ucasa, eine Zentralgenossenschaft von Kleinbauern und Imkern in Nicaragua, die lokal erzeugten Produkte. Zu sehen sind die Geschäftsführerin und eine Verkäuferin sowie eine DGRV-Mitarbeiterin als Kundin.

Weltweit sind genossenschaftliche Unternehmen und Finanzinstitutionen von großer Bedeutung, sowohl in den Industrie- als auch in den sich entwickelnden Ländern. Mehr als eine Milliarde Menschen sind Mitglied einer Genossenschaft. Genossenschaften gehören zu den nachhaltigsten Organisationen und Unternehmen.

Genossenschaftliche Selbsthilfeorganisationen sind ursprünglich entstanden aus Notsituationen beziehungsweise aus dem Bedürfnis heraus, durch gemeinschaftliches, solidarisches unternehmerisches Handeln die wirtschaftliche Situation des einzelnen Mitglieds durch sicheren Zugang zu Märkten, Finanzdienstleistungen, Waren des täglichen Gebrauchs, Energie und vielen anderen Lebensnotwendigkeiten zu verbessern. Während der Kolonialzeit entstanden in zahlreichen Ländern mit Förderung der jeweiligen Kolonialmächte Genossenschaften, vor allem in der Landwirtschaft.

Genossenschaften von den Mächtigen instrumentalisiert

Nach der Unabhängigkeit wurden in vielen Ländern die bereits bestehenden Genossenschaften häufig Instrumente der jeweils Regierenden, sie wurden „offizialisiert“ und politisiert. In nicht wenigen Ländern, insbesondere jener sozialistischen Prägung, wurden ganze Volkswirtschaften „vergenossenschaftlicht“, und Genossenschaften mutierten zu Massenorganisationen der Einheitspartei. So wurden die bestehenden, erfolgreichen Strukturen zerstört und durch meist ineffiziente staatliche Organisationen ersetzt.

Zu Zeiten der offenen Systemkonkurrenz zwischen kommunistischer Planwirtschaft und kapitalistisch ausgerichteter Wettbewerbswirtschaft waren auch „Genossenschaften“ Teil des Wettstreits, vor allem in Afrika. Die zum Ostblock zählenden Länder boten ihr Modell an, die westlichen Länder ihre Modelle. Nachhaltige Strukturen entstanden nur selten.

Auch die internationale Zusammenarbeit sah in den Genossenschaften eher ein sozialpolitisches Instrument und weniger ein Organ gemeinschaftlicher Selbsthilfe. Häufig wurden kaum Eigenbeiträge verlangt, von Selbsthilfe konnte man nicht immer reden. Hinzu kam, dass internationale Organisationen eher ideologisch als wirtschaftlich orientiert argumentierten. Genossenschaftliche Prinzipien, wie Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung, wurden missachtet.

Genossenschaftliche Modelle nicht einfach überstülpen

In der Entwicklungszusammenarbeit wurden genossenschaftliche Modelle vielfach einfach vom Norden in den Süden übertragen, ohne die einheimischen Kooperationserfahrungen und Werte, oder die kulturellen, wirtschaftlichen und personellen Gegebenheiten des Landes zu berücksichtigen. Man glaubte, einen in den Industrieländern organisch gewachsener und erfolgreicher Organisationstyp ohne jede Anpassung auf die Entwicklungsländer übertragen zu können.

Lange wurde zu wenig praktisches Fachwissen und Systemerfahrung vermittelt. Bis heute existiert der Vorwurf, es wäre „Kolonialismus“, wenn man die konstitutiven Wesenselemente von Genossenschaften diskutiert. Die Erfolgsfaktoren wie angepasste gesetzliche Rahmenbedingungen, Fachausbildung beziehungsweise Fachaufsicht, Vernetzung und vor allem die genossenschaftliche Buchprüfung ignorierte man. Letztere ist wichtig, um vor allem Genossenschaften inhärenten Governance-Probleme und das Fehlen gegenseitiger Kontrolle zu lösen und nicht zuletzt um die Sicherheit und das Vertrauen der oft des Lesens unkundigen Mitglieder zu erhalten.

Die Rolle des Staats wurde falsch eingeschätzt: Der Staat beziehungsweise die Regierung eines Landes beeinflussen über die von ihnen gesetzten Rahmenbedingungen den Gang der Entwicklung. Mit seiner Ordnungs- und Strukturpolitik schafft der Staat den Rahmen, innerhalb dessen der Wirtschaftsprozess und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung ablaufen.

Durch zahlreiche Fehlschläge von „Genossenschaftsprogrammen“ ist der Begriff „Genossenschaft“ vielerorts negativ behaftet, und man übersieht die erfolgreichen Beispiele.

Menschen müssen Möglichkeit zur Teilhabe bekommen

Im Globalisierungsprozess werden nur diejenigen Länder, die starke lokale Strukturen haben und eine Politik der nachhaltigen sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung betreiben, auf Dauer erfolgreich sein. Die Herausforderung ist, dafür zu sorgen, dass die wirtschaftliche und soziale Verdrängung, die Marginalisierung und die wachsende Ungleichheit auch innerhalb der Länder gestoppt werden. Die Menschen müssen die Möglichkeit zur Teilhabe bekommen. Entwicklung erfordert die binnenwirtschaftliche Integration, also die Schaffung von Märkten, zu denen alle Menschen gleichermaßen Zugang haben. Dies setzt die Existenz von marktverbindenden Institutionen voraus, damit diese die Menschen zu Trägern und Begünstigten von Entwicklung werden können und die Armut bekämpft wird.

Die strukturbildende Fähigkeit von Kleinbetrieben muss gefördert die Selbständigkeit als Unternehmer gestärkt werden, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Einkommen ist die wesentliche Grundlage für nachhaltige Bedürfnisbefriedigung. Einkommen erzielt jedoch nur, wer die Gelegenheit zur Teilhabe am wirtschaftlichen Geschehen hat. Daher sind der Zugang zu Märkten und die Financial Inclusion wesentliche Voraussetzungen für die selbstgetragene Armutsminderung.

Die Stärkung der lokalen Wirtschaft und die Verbindung mit der überregionalen Wirtschaft sind Funktionen der lokal gebundenen, aber vernetzten Genossenschaften. Dies gilt insbesondere für den ländlichen Raum, wo ein erheblicher Teil der Wertschöpfung nicht der lokalen Wirtschaft zugutekommt, sondern mit dem Produkt in die Städte oder ins Ausland übertragen wird.

Gerade in Afrika kommt es zu einer Renaissance der Genossenschaften, wie erfolgreiche Beispiele zeigen:

  • Hier sind die Spar- und Darlehenskassen zu nennen, die als „credit unions“ oder „caisses populaires“ in 25 afrikanischen Ländern aktiv sind. Im Jahr 2016 gab es 21.724 solcher Genossenschaften; sie werden von 23.2 Millionen Mitgliedern getragen, und hatten über 9 Milliarden US-Dollar an Spareinlagen mobilisiert.
  • Ebenso spektakulär ist der Erfolg der ruandischen Krankenversicherungen auf Gegenseitigkeit („mutuelles de santé“), denen es innerhalb von weniger als 20 Jahren gelungen ist, den Prozentsatz der Ruander, die krankenversichert sind, von 7 Prozent auf über 80 Prozent zu erhöhen.
  • 1987 gründeten 30 marokkanische Kleinbauern die Genossenschaft „Coopérative Agricole“ (Copag), um gemeinsam Obst und Gemüse zu exportieren. Sechs Jahre später eröffnete die Copag einen Milchverarbeitungsbetrieb. Heute besteht die Gruppe Copag aus 72 Einzelgenossenschaften mit 12.000 Mitgliedern und 7.000 Arbeitnehmern und ist eines der wichtigsten Unternehmen des Landes.
  • Im Jahre 1999 schlossen sich 34 Kaffeevermarktungsgenossenschaften in der äthiopischen Provinz Oromia zur „Oromia Coffee Farmers Cooperative Union“ (Ocfcu) zusammen. Der Verband verarbeitet und exportiert fair gehandelten Kaffee und investiert das dadurch erzielte Zusatzeinkommen in hunderte ländliche Projekte (Schulen, Wasserversorgung, Straßen usw.). Heute ist die Zahl der Einzelgenossenschaften auf 405 angewachsen und die Zahl der Mitglieder auf 22.691. Der Verband verfügt über ein Kapital von über 20 Millionen US-Dollar und betreibt, neben der Kaffeevermarktung, eine genossenschaftliche Bank und eine genossenschaftliche Versicherung.

Es könnten hunderte weitere Beispiele angeführt werden. Hier gilt es anzusetzen, was auch ausgesprochenes Ziel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) ist.

Förderung genossenschaftlicher Strukturen immer im Kontext

Die Förderung genossenschaftlicher Strukturen muss kontextbezogen sein, das heißt, die wirtschaftliche Ausgangssituation zum Beispiel der Bauern gilt es ebenso zu berücksichtigen wie die kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Aspekte eines Landes. Der Strukturtyp Genossenschaft kann und muss an diese Bedingungen angepasst werden denn „one size fits all“ gilt bei Genossenschaften nicht.

Die Förderung muss gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen stattfinden: auf Mikroebene der betroffenen Menschen und ihrer Genossenschaften, auf Mesoebene im Bereich von Verbänden und genossenschaftlichen Zentraleinrichtungen für gemeinsame wirtschaftliche Aktivitäten, Aus- und Fortbildung von Führungspersonen und Mitgliedern. Und auf Makroebene durch Beratung von Entscheidungsträgern hinsichtlich gesetzlicher Rahmenbedingungen und Fachaufsicht.

Die Zusammenarbeit mit Einzelgenossenschaften und deren Förderung sollte immer „im System“ stattfinden. Das heißt, wenn möglich über bestehende Strukturen. „Projektgenossenschaften“ dürfen nur zeitlich begrenzt gefördert werden und müssen möglichst rasch in nationale Strukturen integriert werden. Externe finanzielle Förderung sollte zur schrittweisen Integration in das nationale Finanzsystem führen. Dauerhafte externe Förderung mit Drittmitteln schafft keine nachhaltig existenzfähigen Genossenschaften, sondern sind als Sozialtransfers anzusehen, für die andere Förderwege zu suchen sind.

Artikel versenden