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„Die genossenschaftlichen Werte sind ein Schlüssel für erfolgreiche Transformation“ – Interview mit Ministerpräsident Kretschmann

Winfried Kretschmann im Interview mit dem BWGV
Staatsministerium Baden-Württemberg

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Herr Kretschmann, die Koalition von Bündnis 90/Die Grünen und CDU in Baden-Württemberg befindet sich nun in ihrer zweiten Legislaturperiode. Klimaschutz und Energiewende sind zentral und im Koalitionsvertrag ist die Rede von einem „Sofortprogramm für Klimaschutz und Energiewende“. Neben verbesserten Rahmenbedingungen gilt es, den landesweiten Ausbau der Erneuerbaren Energien zu forcieren. Energiegenossenschaften sind hier – teils schon seit mehr als 100 Jahren – stark engagiert. Dafür planen Sie die Einrichtung einer Task Force. Welche Erwartungen knüpfen Sie an die Arbeit der Task Force und welche Bindung werden die Empfehlungen haben?

Unsere Task Force soll Hindernisse beim Ausbau der Erneuerbaren Energien abräumen, ihre Maßnahmen sollen ressortübergreifend umgesetzt werden. Nur so können wir die nötige, deutliche Beschleunigung beim Ausbau erreichen.

Neben dem Themenfeld Klimaschutz werden weitere Schwerpunkte Ihrer Arbeit die Begleitung der wirtschaftlichen Transformation und die Gestaltung der Digitalisierung sein. Welche Rolle können dabei Genossenschaften für Wirtschaft und Gesellschaft einnehmen und was erwarten Sie vor diesem Hintergrund von unseren Genossenschaften im Land?

Mit den Mega-Themen wie der Digitalisierung und dem Klimawandel steht unsere Wirtschaft vor einem grundlegenden Strukturwandel. Die genossenschaftlichen Grundgedanken der Hilfe zur Selbsthilfe und der Solidarität können hier ein echter Schlüssel zur erfolgreichen Transformation sein: Denn gerade kleine und mittlere Unternehmen können sich gegenseitig beim Wandel unterstützen. Ein Beispiel hierfür sind Datengenossenschaften: Denn obwohl Daten zu einem immer wichtigeren Rohstoff im gesamten Wertschöpfungsprozess werden, sind gerade kleine und mittlere Unternehmen häufig zurückhaltend beim Teilen ihrer Daten. Dadurch bleiben viele Innovationsmöglichkeiten ungenutzt. Genossenschaften können aber Räume schaffen, in denen Daten effizient, vertrauensvoll und orientiert an Werten wie Solidarität und Selbstverantwortung sicher ausgetauscht werden. Die Landesregierung fördert deswegen das Pilotprojekt „Digitale Datenräume“, das sich mit der Frage beschäftigt, wie Datengenossenschaften rechtlich, technisch und betriebswirtschaftlich funktionieren können – und unter welchen Voraussetzungen Firmen dazu bereit sind, Daten miteinander zu teilen.

Das Land befindet sich in einem tiefgreifenden Umbruch: Digitalisierung und Klimaschutz sind dabei nur zwei Stichpunkte. Die neue Landesregierung muss den Wandel begleiten, um das Industrieland Baden Württemberg für die Zukunft aufzustellen. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen und wie wollen Sie diesen begegnen?

Unser Land ist der größte Industriestandort in Deutschland und einer der bedeutendsten in Europa. Wir müssen also nachhaltig transformieren und die industriellen Strukturen erhalten. Meine Landesregierung unterstützt die Unternehmen bei Investitionen in wichtige Zukunftstechnologien, wie etwa bei der Batteriezellforschung, der Künstlichen Intelligenz oder der Quantentechnologie. Nur zwei Beispiele: Mit dem Programm Invest BW haben wir das größte branchenoffene Investitions- und Innovationsförderprogramm in der Geschichte des Landes aufgelegt. Und schon 2017 haben wir eine umfassende Digitalisierungsstrategie ins Leben gerufen. Wir haben die Herausforderungen der Digitalisierung angenommen und den digitalen Wandel hierzulande wirklich aktiv gestalten können. In den vergangenen fünf Jahren haben wir mehr als 2 Milliarden Euro in die Digitalisierung unseres Landes investiert, davon mehr als 1,1 Milliarden in den Breitbandausbau.

Gerade der Bereich Landwirtschaft ist geprägt von tiefgreifenden Strukturveränderungen und neue rechtliche Rahmenbedingungen, wie beispielsweise das Biodiversitätsstärkungsgesetz, stellen Produzenten vor immer neue Herausforderungen. Genossenschaften bündeln die Interessen der kleinteiligen Landwirtschaftsbetriebe vor allem bezüglich des Themas Produktion und Vermarktung. Sie bauen zudem oft Brücken zwischen unterschiedlichen Interessen und sind daher nicht nur aufgrund ihrer Marktstellung wichtige Akteure im landwirtschaftlichen Bereich. Das Land arbeitet an einem Gesellschaftsvertrag, um unter anderem die Stellung der Landwirtinnen und Landwirte zu stärken. Wie kann so ein Vertrag aussehen und was kann er leisten? Wer wird in den Dialog dazu eingebunden werden und welche Rolle messen Sie hier Genossenschaften bei?

Derzeit erstellt meine Landesregierung ein Konzept für den Strategiedialog zur Zukunft der Landwirtschaft. Dabei sollen alle relevanten Akteure einbezogen werden – aus Erzeugung, Produktion, Naturschutz, Handel, Konsum, Politik und Gesellschaft. Und die Genossenschaften sind Partner der Landwirtschaft, Erzeuger und Produzenten und Bindeglied zum Lebensmitteleinzelhandel. Sie spielen daher eine wichtige Rolle für diesen Prozess.

Die Volksbanken und Raiffeisenbanken sind wichtige Finanzpartner der starken mittelständischen Wirtschaft in Baden-Württemberg, stehen aber durch die anhaltende Null- beziehungsweise Niedrigzinsphase der Europäischen Zentralbank, den wachsenden regulatorischen Anforderungen und weiteren Herausforderungen zunehmend unter Druck. Wie will die neue Landesregierung dazu beitragen, dass die regionale Bankenstruktur in Baden-Württemberg langfristig erhalten bleibt?

Ich bin mir der wichtigen Rolle der regionalen Banken im Südwesten natürlich bewusst. Im Koalitionsvertrag haben wir deshalb die Haltung formuliert: Wir bekennen uns zum dreigliedrigen Bankensystem und setzen uns auf europäischer und nationaler Ebene auch für mittelstandsfinanzierende Banken ein. Vor allem wollen wir kundennahe, kleine und mittlere Banken stärken  – schließlich sind sie wirklich verlässliche Partner für kleine und mittlere Unternehmen sowie für Privatkunden. Deshalb wollen wir, dass diese oft regional verwurzelten Banken bei Regulierungsvorhaben auch angemessen entlastet werden.

Wirtschaftliche Stabilität und gesellschaftlicher Zusammenhalt sind entscheidend für den Erfolg des Landes. Mit dem Projekt WohnenPlus leistet der Baden-Württembergische Genossenschaftsverband einen Beitrag, gute soziale Infrastrukturen zu schaffen sowie Ideen für eine ganzheitliche und nachhaltige Quartiersentwicklung weiterzuentwickeln und in die Öffentlichkeit zu tragen. Worin sehen sie das große Potenzial der Quartiersentwicklung und mit welchen weiteren Projekten wollen sie diese vorantreiben?

Der demografische Wandel und die wachsende Mobilität der Menschen verändern unser Zusammenleben. Lebendige und unterstützende Quartiere können die richtige Antwort auf diese Entwicklung sein. Denn solche ganz besonderen Orte ermöglichen ein gutes Miteinander und Älterwerden im eigenen Wohnumfeld. Die Landesstrategie „Quartier 2030 – Gemeinsam.Gestalten.“ des Sozialministeriums setzt genau hier an. Damit unterstützen wir alters- und generationengerechte Quartiere – etwa durch kostenlose Beratung für neue Quartiersentwicklungen oder für ambulant unterstütztes Wohnen, durch finanzielle Förderungen oder kostenlose Schulungen über unsere eingerichtete Quartiersakademie. So leisten wir auch einen wichtigen Beitrag für die bedarfsgerechte Aktivierung von bezahlbarem Wohnraum im Bestand. Für die tatsächliche Umsetzung vor Ort jedoch sind die lokalen Akteure entscheidend. Und hier sehe ich auch die Genossenschaften am Zug, die lokal vernetzt sind und ihre Bewohnerschaft kennen. Sie können im wichtige Impulse – etwa wenn es darum geht, großen genossenschaftlichen Wohnungsbestand zu modernisieren.

Bei welchen weiteren Themenfeldern sehen Sie Anknüpfungspunkte für Genossenschaften?

Engagement, Selbstverantwortlichkeit, Offenheit für innovative Ideen, aber auch Solidarität, soziales Pflichtbewusstsein und Zusammenhalt, das alles zeichnet Genossenschaften aus. Und das alles brauchen wir eigentlich in allen gesellschaftlichen Bereichen – vom angesprochenen Wohnen über den Personennahverkehr, von der Pflege und der Unterstützung bis hin zur ärztlichen Versorgung. Baden-Württemberg ist ja das Land mit der größten Dichte an Genossenschaften und der höchsten Anzahl von Mitgliedern in Deutschland. Und ich bin mir sicher, dass der genossenschaftliche Ansatz auch über die bisher beackerten Tätigkeitsfelder hinaus noch ganz vielseitigen gesellschaftlichen Nutzen bringen kann.

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