Die Genossenschaften in Baden-Württemberg haben ein solides Jahr 2021 hinter sich, der Blick nach vorne offenbart jedoch zahlreiche Unwägbarkeiten: Die Umsätze der 626 (2020: 622) Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften im Südwesten legten im vergangenen Jahr deutlich um 8,3 Prozent auf 9,88 Milliarden Euro zu. „Unsere Genossenschaften sind trotz der anhaltenden Auswirkungen der Corona-Pandemie sehr fokussiert und mit viel Engagement sowie Kreativität in ihren jeweiligen Märkten unterwegs“, sagt Dr. Roman Glaser, Präsident des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbands (BWGV), bei der digitalen Jahres-Pressekonferenz des Verbands. 2022 wird neben den Nachwirkungen von Corona vor allem durch die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine geprägt sein. Für die 32 Schülergenossenschaften in Baden-Württemberg fordert Glaser dringend eine weitere Befreiung von der Umsatzsteuer, um die Existenz dieser beliebten demokratischen Schülerfirmen nicht zu gefährden.
Aufgrund der anhaltenden Auswirkungen der Corona-Pandemie sowie des Krieges in der Ukraine rechnen die Genossenschaften – wie auch alle anderen Unternehmen – für das Jahr 2022 mit etlichen Unwägbarkeiten und Herausforderungen, die es zu meistern gilt. Die deutlich gestiegene Inflation führt zu einem hohen Kostendruck in praktisch allen Branchen – in der Landwirtschaft sind insbesondere die Düngerpreise massiv gestiegen. Öl, Gas und Strom haben sich indes für alle stark verteuert. Viele Betriebe werden zudem von dem im Herbst auf 12 Euro steigenden Mindestlohn betroffen sein. Neben den Preisen erweist sich auch die Verfügbarkeit von Rohstoffen und (Vor-)Produkten teilweise als problematisch. Viele Lieferketten sind durch Corona und den Krieg beeinträchtigt. Andere Entwicklungen wurde durch die Corona-Pandemie aber auch beschleunigt – etwa die Digitalisierung. Insbesondere der Auf- oder Ausbau von Onlineshops hat sich als sehr positiv erwiesen. Vielerorts sind die Online-Umsätze merklich gestiegen.
Krisen zeigen die Stärke des genossenschaftlichen Modells
„Gerade in der Krise wird die Stärke und Robustheit des genossenschaftlichen Geschäftsmodells eindrucksvoll unter Beweis gestellt“, zeigt sich Glaser auch zuversichtlich und lobt das Engagement und die Kreativität der Mitarbeitenden in den Genossenschaften. „Die Menschen spüren außerdem, wie wichtig und wertvoll regional tätige Unternehmen sowie vor Ort erzeugte Produkte und Dienstleistungen sind – in der Landwirtschaft, aber auch in vielen anderen Bereichen. Genau das leisten unsere Mitgliedsunternehmen“, betont der Repräsentant der Genossenschaften in Baden-Württemberg. Glaser beobachtet eine gestiegene Akzeptanz und eine höhere Wertschätzung für regional erzeugte Produkte bei den Menschen. Dieser Trend müsse aber auch langfristig anhalten und mit einer angemessenen und auskömmlichen Entlohnung für die Landwirte und einer verbesserten Wettbewerbsstellung der Genossenschaften einhergehen. Kooperationen in Form von Genossenschaften bündeln das Angebot landwirtschaftlicher Produkte, stärken die Marktstellung der heimischen Erzeuger gegenüber Handel sowie Industrie und entwickeln die gesamte Wertschöpfungskette berücksichtigenden Vermarktungsstrategien. Dadurch ermöglichen sie auch den Erhalt der so wertvollen kleinteiligen Agrarstruktur in Baden-Württemberg. „Die Bedeutung der regionalen, genossenschaftlich organisierten Landwirtschaft war selten so sichtbar wie heute“, sagt Glaser.
Landwirtschaft: Steigende Umsätze – vor allem im Warengeschäft
Die 305 landwirtschaftlichen Genossenschaften in Baden-Württemberg haben ihre Umsätze im Jahr 2021 um 1,8 Prozent auf 3,73 Milliarden Euro gesteigert. In der allgemeinen Warenwirtschaft sind die Erlöse der 40 Genossenschaften (inklusive des Warengeschäfts der Genossenschaftsbanken) um 7,7 Prozent auf knapp 1,2 Milliarden Euro gestiegen. Die ZG Raiffeisen sowie die Bezugs- und Absatzgenossenschaften (BAG) bringen das Getreide der Landwirte an den Markt, bündeln für diese den Einkauf von Futter- und Düngemitteln und verkaufen Maschinen, Heizöl und Kraftstoffe. Die Genossenschaften unterstützen ihre Mitglieder mit Preisabsicherungsmodellen, die für die Landwirte in einer zunehmend volatilen Situation Risiken begrenzen helfen. Die Umsätze der 20 Obst-, Gemüse- und Gartenbau-Genossenschaften beziehungsweise -Vertriebsgesellschaften haben sich im Jahr 2021 um 3,6 Prozent auf 563 Millionen Euro erhöht. Die 108 Winzer- und Weingärtnergenossenschaften in Baden-Württemberg steigerten ihre Umsätze um 1,9 Prozent auf 457 Millionen Euro. Die Umsätze der sechs genossenschaftlichen milchverarbeitenden Betriebe legten 2021 leicht um 0,6 Prozent auf 892 Millionen Euro zu. Einen Umsatzrückgang um 7,4 Prozent auf 388 Millionen Euro hatte dagegen die Viehwirtschaft zu verzeichnen. Vor dem Hintergrund des anhaltenden Strukturwandels verringerte sich die Zahl der Mitglieder bei landwirtschaftlichen Genossenschaften um 2.650 auf 92.560.
Genossenschaften: 19 spannende Neugründungen im Jahr 2021
Aufgrund der Einzigartigkeit des genossenschaftlichen Modells hinsichtlich Solidarität, Nachhaltigkeit, Regionalität und Beständigkeit können Genossenschaften dabei helfen, wichtige gesellschaftliche und wirtschaftliche Zukunftsherausforderungen zu meistern. 19 Genossenschaften sind 2021 in den unterschiedlichsten Feldern gegründet worden, in diesem Jahr waren es bisher bereits acht. Einen Schwerpunkt bei den Gründungen der vergangenen Jahre bilden Genossenschaften im kommunalen Umfeld: Neben der ärztlichen Versorgung stehen Themen wie Mobilität, Betreuung, Pflege, Bildung und die Entwicklung von ganzheitlichen Quartieren auf der Agenda.
Hierfür hat das Landesministerium für Soziales, Gesundheit und Integration gemeinsam mit dem BWGV das Förderprojekt „Genossenschaftlich getragene Quartiersentwicklung“ ins Leben gerufen. Es richtet sich an alle Initiativen und Projekte im Südwesten, die gemeinsam ihr Quartier gestalten und genossenschaftlich verwalten wollen, und bietet diesen professionelle Unterstützung bei der Umsetzung an. „Genossenschaftlich getragene Quartiersentwicklung und erweiterte Daseinsvorsorge rücken als Alternativen zu rein privatwirtschaftlichen Wohnprojekten sowie vorwiegend rein kommunal organisierter Versorgung immer mehr in den Fokus“, erläutert Glaser. Das Spektrum der mit dem Wohnen verknüpfbaren Dienstleistungen für ein attraktives Lebensumfeld im Quartier umfasst unter anderem die Bereiche der lokalen Nahversorgung, die Betreuung von Kindern und Senioren, kulturelle Einrichtungen, Energieversorgung samt Mobilitätsangeboten oder auch die ärztliche und pflegerische Grundversorgung sowie neue Arbeitsformen wie etwa Co-Working-Spaces.
Datengenossenschaften helfen dem Mittelstand
Im hochaktuellen Thema Daten- und Plattformökonomie gewinnen genossenschaftliche Lösungen ebenfalls an Bedeutung. „Denn gerade für kleine und mittlere Unternehmen sind die bürokratischen und finanziellen Einstiegshürden in die wertschöpfungssteigernde Nutzung von Daten oftmals zu hoch“, so BWGV-Präsident Glaser. In einer Datengenossenschaft können diese Barrieren gemeinsam überwunden werden, ohne dass die einzelnen Unternehmen ihre Selbstständigkeit aufgeben müssen oder in die Abhängigkeit eines übermächtigen Plattformbetreibers gezogen werden. Wie sogenannte Datengenossenschaften funktionieren können, untersucht der BWGV derzeit gemeinsam mit dem Ferdinand-Steinbeis-Institut und der Universität Stuttgart in einem vom Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg geförderten Pilotprojekt.
Mit Gesundheitsgenossenschaften die Kräfte bündeln
Ein vielversprechendes Konzept sind zudem Gesundheitsgenossenschaften wie kooperative Pflegeangebote und -einrichtungen oder genossenschaftliche Ärztehäuser, mit denen unter anderem dem drohenden Ärztemangel insbesondere im ländlichen Raum begegnet werden kann. Genossenschaftlich organisierte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) bieten flexible Arbeitszeiten, Angestelltenverhältnisse und Möglichkeiten zur Teilzeit-Beschäftigung für Mediziner sowie geteilten Verwaltungsaufwand. Das ist für junge Medizinerinnen und Mediziner häufig attraktiver als die Selbstständigkeit. „Die qualitativ hochwertige, flächendeckende und ortsnahe medizinische Versorgung ist ein entscheidender Faktor für die Zukunftsfähigkeit der Städte und Gemeinden. Hierbei können Genossenschaften eine wichtige Rolle spielen“, verdeutlicht Glaser. Allein 2022 sind bereits vier Genossenschaften zur hausärztlichen Versorgung an den Start gegangen – in Grafenhausen und Jestetten (beide Landkreis Waldshut), in Hülben (Landkreis Reutlingen) und in Bubsheim (Landkreis Tuttlingen).
Gewerbliche Genossenschaften legen beim Umsatz deutlich zu
Die 321 gewerblichen Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften in Baden-Württemberg haben ihren Umsatz im Jahr 2021 deutlich um 12,8 Prozent auf 6,15 Milliarden Euro gesteigert. Die gewerblichen Genossenschaften decken fast die gesamte wirtschaftliche Bandbreite ab – vom Kinderarzt über Handelsgenossenschaften, Kooperationen aus dem Handwerk, Energiegenossenschaften und Dorfläden bis hin zu Kaminbauern, Softwareschmieden und Beratern. Die Zahl der Mitglieder im gewerblichen Bereich stieg im vergangenen Jahr um fast 4.300 auf gut 95.420. Nahezu zwei Drittel des Umsatzes in der Gruppe der gewerblichen Waren- und Dienstleistungsgenossenschaften entfallen auf die zwölf Genossenschaften des Fachhandels (darunter Intersport und Euronics). Sie verzeichneten 2021 einen deutlichen Umsatzanstieg um 15,9 Prozent auf 3,89 Milliarden Euro. Mit einem Umsatzwachstum von 6,3 Prozent auf gut 1,64 Milliarden Euro war die Entwicklung der 27 Genossenschaften des Handwerks ebenfalls positiv. Mehr als 18.500 Handwerksbetriebe im Südwesten sind genossenschaftlich organisiert. Die 147 Energiegenossenschaften erwirtschafteten 2021 einen Umsatz von 416 Millionen Euro, was einem Plus von 6,7 Prozent entspricht. Hinter den Energiegenossenschaften stehen 46.400 Einzelmitglieder. Der BWGV sieht besonders in den Bereichen Nahwärme, Mieterstrommodelle, Elektro-Mobilität und bei Kooperationen untereinander sowie mit Kommunen oder Stadtwerken noch erhebliches Potenzial.
BWGV: Schülergenossenschaften weiterhin von Umsatzsteuer befreien
„Ein noch recht kleines, aber dafür umso erfreulicheres Jubiläum feiern wir dieses Jahr mit unseren Schülergenossenschaften“, berichtet BWGV-Präsident Glaser. Seit nunmehr zehn Jahren gibt es diese besonderen Schülerfirmen in der Rechtsform der eingetragenen Schülergenossenschaft (eSG) im Südwesten. Mittlerweile ist deren Zahl auf 32 angestiegen, ein gutes Dutzend befinden sich aktuell in der Gründung. Das Besondere daran ist, dass es sich bei Schülergenossenschaften nicht um bloße Planspiele handelt, sondern um richtige kleine Firmen, die echten Umsatz erwirtschaften und in denen die demokratische Unternehmensform der Genossenschaft erlebt und aktiv gestaltet werden kann. Bei der digitalen Pressekonferenz des Verbands stellte sich exemplarisch die Teck-Stil eSG vor, die erfolgreiche Schülergenossenschaft des Schlossgymnasiums in Kirchheim unter Teck.
Ungemach droht den Schülergenossenschaften nun aber von der Politik: Denn die Änderung des Umsatzsteuergesetzes aufgrund von EU-Vorgaben führt dazu, dass privatwirtschaftliche Umsätze der öffentlichen Hand ab dem Jahr 2023 grundsätzlich der Umsatzsteuer unterliegen. Somit gilt dies zukünftig auch für Schülerfirmen, darunter auch Schülergenossenschaften, die in der Trägerschaft einer Schule gegründet werden und somit ab dem ersten Euro umsatzsteuerpflichtig sind. Die sogenannte Kleinunternehmergrenze entfällt faktisch, da die Umsätze denen des Trägers hinzugerechnet werden. Die Schülerfirmen werden damit nicht nur umsatzsteuerpflichtig, sondern können ihre Steuererklärung zudem nicht eigenständig abgeben. Das bedeutet, sie sind auf den Träger (Kommune/Stadtkämmerer) angewiesen. In dessen Buchhaltung müssen die Umsätze der Schülergenossenschaft einfließen. Der Träger muss dann aber auch für etwaige Versäumnisse haften, was viele Kommunen ablehnen, da sie nicht bereit sind, die Verantwortung für die Umsätze der Schülerfirmen/Schülergenossenschaften zu übernehmen. Als Konsequenz daraus dürften viele Schülerfirmen und Schülergenossenschaften aufgelöst werden. „Wir bitten die Politik deshalb um eine schnelle und praktikable Lösung, damit Schülerfirmen – wie bisher unter bestimmten Bedingungen auch – von der Umsatzsteuer befreit bleiben“, fordert Glaser. „Denn bei den Schülerfirmen handelt es sich um Schulprojekte, in denen junge Menschen wirtschaftliches Handeln und Denken lernen und ausprobieren können. Auch wenn die Schülerinnen und Schüler wirtschaftlich erfolgreich sind, so steht doch die pädagogische Arbeit stets im Vordergrund“, betont der BWGV-Präsident.
Die traditionsreiche und vielfach bewährte Rechts- und Unternehmensform der eingetragenen Genossenschaft (eG) ist seit mehr als 160 Jahren erfolgreich. Die Zahl der Genossenschaftsmitglieder in Baden-Württemberg liegt bei gut 3,87 Millionen. Das ist mehr als jeder dritte Einwohner. In keinem anderen Bundesland ist die Mitgliederdichte so hoch wie im Südwesten. Auch gab es hierzulande noch nie so viele unterschiedliche Genossenschaften wie heute. Die aktuell 770 Unternehmen in der Rechtsform der eG verteilen sich auf rund 50 Branchen. 33.603 Menschen (Ware: 13.006, Banken: 20.597) arbeiten für Genossenschaften. Zudem bilden die Genossenschaften 2.276 junge Menschen aus (Ware: 570, Banken: 1.706).