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Digitale Kollektive sind auf dem Vormarsch – Vom Coworking Space zum kollektiv geführten Unternehmen

pixeltreu eG Meersburg
Ute Spatz

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Wer bei Genossenschaften und IT-Dienstleistern an die 1966 gegründete Datev eG denkt, liegt nicht falsch, könnte aber eventuell ein Update gebrauchen. Erfreut sich doch die Genossenschaftsidee in den vergangenen Jahren in der IT-Branche zunehmender Beliebtheit. Das Neue: Während die frühen IT-Genossenschaften vor allem Software und Dienstleistungen für ihre Mitglieder bereitstellen, agieren die heutigen Digitalkollektive auf dem freien Markt. Es handelt sich um selbstständige oder angestellte Mitglieder, die ihre Arbeitsleistungen ganz oder teilweise über die Genossenschaft anbieten und abrechnen. 

Vertrauensvolle Zusammenarbeit punktet

Doch was treibt die Gründer dazu, eine genossenschaftliche Struktur aufzubauen und zu finanzieren? Schließlich können sich IT-Profis nicht über mangelnde Nachfrage ihrer Expertise beklagen. Um die Gründe besser zu verstehen, kann ein näherer Blick auf die 2021 in den BWGV als Mitglied eingetretene pixeltreu eG mit Sitz in Meersburg am Bodensee weiterhelfen. Ist doch die Motivation der vier Gründer durchaus typisch für diesen Trend. So kannten sich alle bereits aus früheren Arbeitsverhältnissen und haben die Expertise der Anderen schätzen gelernt. „Ab einem gewissen Punkt war mir die Zusammenarbeit in vertrauten und eingespielten Teams wichtiger als die Erwirtschaftung eines optimalen Stundenlohns“, erklärt Sven Burdack, Initiator von pixeltreu. Aktuell arbeitet pixeltreu an einem Weiterbildungssystem für Chirurgen sowie ein webgestütztes Informationsportal für eines der größten deutschen Beerdigungsunternehmen. „Diese Systeme haben wir in enger Abstimmung mit den Auftraggebern konzipiert und programmiert und stehen so selbst 100 Prozent dahinter“, beschreibt Burdack den Gewinn für alle Seiten. Typische Auftraggeber sind kleine und mittelständige Unternehmen, die maßgeschneiderte und nachhaltige Lösungen für ihre jeweiligen Aufgabenstellungen suchen.

Transparenz und demokratische Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Dass es sich um einen Trend handelt, hat auch André Dörfler, Innovationsmanager bei der R+V Versicherung erkannt, der als Initiator des ‚MakerCamp Genossenschaften‘ die Genossenschaftsbewegung fördern möchte. „Nach meinen Beobachtungen haben die Gründungen von Genossenschaften durch Selbstständige und Freelancer im IT-Bereich klar zugenommen.“ Überrascht davon ist er allerdings weniger. Seine Erklärung lautet: „Agile Softwareentwicklung und Genossenschaften basieren auf denselben Werten: Transparenz und demokratische Zusammenarbeit auf Augenhöhe. In diesem Sinne könnte man sagen, dass hier etwas zusammenwächst, was zusammengehört.“ So kann man festhalten, dass der Wunsch nach selbstbestimmtem Arbeiten in flachen Hierarchien eines der zentralen Motive der neuen Digitalkollektive ist. Dabei geht es nicht nur um die Unabhängigkeit von Chefs, sondern auch von Marktdynamiken. Gerade in der traditionell durch Investorenkapital getriebenen IT-Branche stellen Genossenschaften eine interessante Alternative dar. Während das Eine-Stimme-pro-Kopf-Prinzip gleichberechtigte Mitbestimmung garantiert, kann die Option einer Unverkäuflichkeit der Anteile das Unternehmen gegen reine Kapitalinteressen immunisieren.

Genossenschaft ermöglicht Flexibilität

Dabei bietet eine Genossenschaft gerade Start-ups die Flexibilität, die diese benötigen. Große materielle Investitionen sind nicht notwendig und andere Verdienstquellen nicht ausgeschlossen. Im Zentrum stehen die Fähigkeiten und Expertise, die jedes Mitglied mitbringt. So können für alle Aufträge maßgeschneiderte Teams zusammengestellt werden, die eine optimale Erledigung sicherstellen. 

Ebenfalls typisch für die Digitalkollektive ist die Nutzung von quelloffener Software. Bereits vorhandene und vielfach getestete Komponenten werden zu individuellen Lösungen zusammengestellt. Dies spart nicht nur Kosten, sondern gibt den Auftraggebern zudem die Sicherheit, dass der entstandene Code auch unabhängig von den Programmierern weitergenutzt und -entwickelt werden kann. Die mit Open-Source-Software hergestellte Transparenz ist auch zentraler Bestandteil des Koalitionsvertrags der aktuellen Bundesregierung, die digitale Souveränität „u. a. durch das Recht auf Interoperabilität und Portabilität sowie das Setzen auf offene Standards und Open Source“ sichern will1

1 https://cms.gruene.de/uploads/documents/Koalitionsvertrag-SPD-GRUENE-FDP-2021-2025.pdf

IT-Genossenschaft spart Kosten und Zeit

Doch was kostet der Betrieb einer IT-Genossenschaft und was bekommen die Mitglieder dafür? „Erst einmal können wir Kosten und Zeit sparen, indem wir auf klassische Infrastruktur verzichten,“ sagt Til Wolters, Grafiker bei pixeltreu. Ein gemeinsames Büro oder eine Telefonanlage wurden erst gar nicht angeschafft. Bisher hat pixeltreu noch keine Angestellten. Die Arbeit, die notwendig ist, die Genossenschaft zu betreiben und weiterzuentwickeln, wird von den Mitgliedern selbst aufgebracht. Dabei notieren sie die aufgewendete Zeit und verrechnen dies jährlich in Optionen für den Kauf der limitierten Anteile. Die Option zum dezentralen Arbeiten sehen die Mitglieder als eine willkommene Möglichkeit, mit dem Arbeitsweg verbundene Zeit und Kosten zu sparen. Dabei stellt die Genossenschaft wie ein ‚normales‘ Unternehmen Server, Entwicklungsumgebungen, Rechtsberatung und Versicherung zur Verfügung. „So ist es uns möglich, wegen geringer Overheadkosten lediglich geringe Abgaben von unseren Mitgliedern einzufordern“, rechnet Wolters vor „Und verteilbarer Gewinn, der am Ende des Jahres übrigbleibt, wird zusätzlich zu den gestellten Rechnungen gemäß der Anteile an die Mitgliederarbeiter ausgeschüttet.“ 

Verschmelzung der genossenschaftlichen Idee mit der Computertechnik

Schaut man in die Zukunft, ist es sogar möglich, dass es zu einer integralen Verschmelzung der genossenschaftlichen Idee mit der Computertechnik kommt. So werden seit Mitte des 2010er Jahre auf Basis der Blockchain-Technologie Algorithmen eingesetzt, um dezentrale autonome Organisationen, sogenannte DAOs, zu etablieren und betreiben. In diesen ist die Satzung gewissermaßen einprogrammiert und alle Entscheidungen für die Mitglieder nachvollziehbar festgehalten. Auch die Firmenkasse und alle Geldflüsse sind fest an die Blockchain gebunden, so dass die Gefahr von Fehlverhalten durch menschliche Verantwortungsträger deutlich minimiert ist und weniger in Kontrolle investiert werden muss.

Thy-Diep Ta, Gründerin einer Genossenschaft für Achtsamkeit (Balanced Being Cooperative) nach holländischem Recht und Gründerin der Blockchain- und Technologieplattform Unit Network, die die Infrastruktur für die Etablierung von DAOs und digitalen Vermögenswerten im Web3 bereitstellt, ist überzeugt, dass DAOs das Potenzial haben, die Zukunft der Arbeit zu verändern. „Man kann sich zum Beispiel Uber als ein DAO vorstellen, bei denen nicht die Gründerinnen und Gründer sowie Investorinnen und Investoren, sondern die Fahrerinnen und Fahrer sowie alle anderen Beteiligten, die zur Wertsteigerung eines Netzwerkes beitragen, frühzeitig und langfristig an der Wertschöpfung des Ökosystems beteiligt sind.“ Die Vorteile sieht sie in der Niedrigschwelligkeit der Beteiligung sowie der hohen Skalierbarkeit durch die technologiegetriebene Kosteneffizienz. Grundsätzlich kann jede Person mitmachen, die einen Zugang zum Internet hat und die gemeinsamen Ziele teilt. 

Doch ist diese Unkompliziertheit auch zugleich das größte Hemmnis für die Durchsetzung der DAOs. Da sie bisher nicht als Rechtsform anerkannt sind, können sie weder als Vertragspartner dienen noch persönliche Haftungen begrenzen. Ausnahme ist bisher der US-Bundestaat Wyoming, in denen DAOs seit 2021 als LLC (Limited Liability Company) angemeldet werden können, die mit einer Deutschen GmbH vergleichbar sind. Allerdings muss zusätzlich ein menschlicher Agent mit Sitz in Wyoming registriert werden, was eigentlich nicht der reinen Lehre einer DAO entspricht.

Satzung und Geldflüsse 1:1 im DAO-Algorithmus

Am weitesten hat die Vereinigung von Genossenschafts- und IT-Welt wohl bisher die Rocketstar Foundation vorangetrieben, die sich als Europäische SCE (Societas Cooperativa Europaea) in Gründung befindet. Als erste Genossenschaft hat sie ihre Satzung und Geldflüsse 1:1 in ihrem DAO-Algorithmus abgebildet. Zu ihrer Motivation sagt der Mitgründer Andreas Fauler: „Tatsächlich befinden wir uns noch in einem experimentellen Stadium. Grundsätzlich wäre es natürlich gut möglich, in unserer acht Mitglieder starken Genossenschaft auch auf herkömmliche Art und Weise Entscheidungen zu fällen und Geldflüsse zu handhaben. Doch macht es für uns als eine Agentur, die ihre Kunden auf ihren Weg ins Web3 begleiten möchte, Sinn, selbst Erfahrungen in diesem Bereich zu sammeln. Auch hält sich der technische Aufwand in Grenzen, da mittlerweile Plattformen wie DAOHaus existieren, die innerhalb von einer Stunde die Generierung eines maßgeschneiderten Algorithmus für das eigene DAO ermöglichen.“

Weitere Mitglieder sind bei pixeltreu willkommen

Bei allem aber gilt, dass sich die eigentliche Arbeit nicht von selbst erledigt. Daher wird sich wohl auch in Zukunft nichts an einer der zentralen Herausforderungen jeglicher Organisationen ändern: „Um unser Expertennetzwerk weiter auszubauen und so noch flexibler auf Anforderungen reagieren zu können, sind wir auf der Suche nach neuen Mitgliedern,“ antwortet Sven Burdack, Initiator von pixeltreu, auf die Frage nach den nächsten Schritten. Denn letztendlich sind es doch die Menschen, die im Mittelpunkt jeder Arbeit stehen, sei sie noch so agil und digital. Dass dies für die Produzenten- wie für die Anwenderseite gleichermaßen gilt, ist eine Binsenweisheit. Nicht nur bei pixeltreu, sondern in allen guten IT-Häusern – und natürlich seit über 150 Jahren auch im Genossenschaftswesen.

pixeltreu eG Meersburg
In Meersburg am Bodensee, dem Sitz der pixeltreu eG (v.l.): Andreas Lange, Andreas Schenk, Sven Burdack und Vlad Chetyrkin. 

 

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