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Das Quartier genossenschaftlich als Innovationsökosystem gestalten

Genossenschaftliche Quartiersentwickiung
Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de

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Sowohl die Entwicklung neuer als auch die Weiterentwicklung bestehender Quartiere sind mit vielfältigen Herausforderungen verbunden. Durch weitere Klimaschutzmaßnahmen und ein zunehmendes Umweltbewusstsein steigen die energetischen Anforderungen an Wohn- und Gewerbeimmobilien. Die besonders für Deutschland ungünstige demografische Entwicklung bedingt eine weiter zunehmende Urbanisierung, bedingt durch Migration und Zuzug älterer Menschen in Städte, die künftig noch mehr altersgerechte Wohnungen und Pflegeeinrichtungen etablieren müssen. Hinzu kommen die steigenden Anforderungen aus der digitalen Transformation und einer Informationsgesellschaft, die sich mit Konnektivität, Schnelllebigkeit, Individualisierungstendenzen und veränderten Konsumgewohnheiten auseinandersetzen muss. 

Verstärkt durch die Corona-Pandemie werden künftig auch neue Wohn- und Arbeitsformen in Quartieren erwartet, verbunden mit der Forderung nach bezahlbarem Wohnraum. Ferner bringt die hohe Anzahl potenzieller Anspruchsgruppen, wie zum Beispiel Baugemeinschaften, Gewerbe-, Handels-, Produktions- und Dienstleistungsunternehmen, Stadtplanung, Bürgerschaft, Kommunalverwaltung, ÖPNV etc. eine steigende Komplexität bei Planung, Steuerung und Umsetzung von Quartiersprojekten hervor. Nicht zuletzt auch die angespannten öffentlichen Haushalte zahlreicher Kommunen erfordern privatwirtschaftliche Lösungen, um den dynamischen Struktur- und Gesellschaftswandel innovativ und nachhaltigkeitsorientiert mit zu gestalten.

Quartiere als Innovationsökosysteme

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Zahl komplexer, zum Teil miteinander vernetzter Herausforderungen (Challenges), denen sich Wirtschaft, Gesellschaft, Verwaltung und Politik gegenübergestellt sehen, leitet sich die Frage ab, wie eine sinnstiftende (Purpose) und nachhaltige Quartiersentwicklung gelingen kann. Ergebnisse unterschiedlicher Forschungsprojekte (zum Beispiel an der Hochschule für Technik HFT Stuttgart1) sowie eine wachsende Anzahl von Studien (exemplarisch sei hier der Sachverständigenrat für Umweltfragen genannt) zeigen, dass das Stadtquartier als wesentliche Handlungsebene für eine nachhaltige Stadt- und Infrastrukturentwicklung an Relevanz gewonnen hat.

1Vgl. https://www.hft-stuttgart.de/forschung/struktur/kompetenzzentren/nachhaltiges-wirtschaften-und-management

Dies gilt insbesondere für die Gestaltungspotenziale, die sich ergeben, wenn das Stadtquartier als Innovationsökosystem verstanden wird, bei dem sich die relevanten Anspruchsgruppen von Beginn an aktiv und gestaltend im Rahmen eines transdisziplinären Reallabors (Living Lab) einbringen. Kommunen, Städte und Quartiere sind Ökosysteme beziehungsweise Lebensräume, in denen eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure und Anspruchsgruppen in einem komplexen Umfeld interagieren, so auch bei der Gestaltung neuer Stadtquartiere. 

Heutige Quartiere setzen bei ihrer Entwicklung grundlegende Rahmenbedingungen, wie beispielsweise den Mix aus verschiedenen Baugruppen und Nutzungen, die Einbindung der Bürgerschaft und die Förderung eines offenen Dialogs mit Blick auf das projektierte Vorhaben. Um in diesem Ökosystem möglichst innovative Ideen und Gestaltungsvorschläge für ein neues Quartier zu entwickeln, setzt die Innovationsökosystematik auf partizipative Formate, wie beispielsweise Reallabore. Ziel ist es, in einem möglichst breiten Beteiligungsprozess der relevanten Stakeholder (zum Beispiel private Baugruppen, Nutzer aus Gewerbe und Handel, Investoren, Kommunalpolitik und -verwaltung, bestehende Nachbarschaft etc.) für reale Herausforderungen in der Quartiersentwicklung real implementierbare Lösungen zu entwickeln. Hochschulen und sonstige Forschungsinstitute können diesen Prozess moderieren und neue wissenschaftliche Erkenntnisse einbringen, wie zum Beispiel im Bereich von Klimaschutz oder nachhaltiger Finanzierung.

Quartiersentwicklung sinnstiftend genossenschaftlich organisieren

Städtische Quartiere werden meist durch Projektgesellschaften entwickelt und gesteuert. Sofern auch Baugemeinschaften im Nutzungsmix zugelassen werden, sind diese vorwiegend in der Rechtsform der GbR/WEG organisiert. Mit Blick auf Partizipationsmöglichkeiten stellt aber gerade die genossenschaftliche Rechtsform mit ihren vielfältigen Beteiligungspotenzialen eine sinnvolle Alternative im Rahmen der Quartiersentwicklung dar. Mitglieder einer Genossenschaft sind nicht nur Miteigentümer und Kunden ihres Unternehmens, sie wirken auch in der Selbstverwaltung in einem basisdemokratischen Willensbildungsprozess mit (ein Mitglied – eine Stimme). Damit eng verbunden sind die genossenschaftlichen Werte und Attribute, wie beispielsweise Demokratie, Freiwilligkeit, Solidarität, Fairness und Ehrlichkeit, Regionalität und Subsidiarität. Die genossenschaftlichen Wesensprinzipien stellen damit die Mitglieder als zentrale Anspruchsgruppe („Stakeholder“) in den Mittelpunkt wirtschaftlichen Handelns. 

Gerade für Neubauquartiere bietet dies eine resiliente Basis, um durch Einbeziehung aller beteiligten und betroffenen Stakeholder Bedürfnisse zu ermitteln, einen Interessenausgleich sowie tragfähige und konsensfähige Lösungsansätze im Projektvorhaben zu schaffen. Auf dieser Basis entstehen im Idealfall integrative Wohnprojekte, innovative Wohn- und Arbeitsformen oder andere vielfältige Nutzungspotenziale. Ferner wird durch den genossenschaftlichen Ansatz (beispielsweise bei Baugemeinschaften) dem Spekulationsmotiv entgegengewirkt, denn Veräußerungen von selbst genutzten Wohnungen durch Mitglieder einer Baugemeinschaft können per Satzung ausgeschlossen werden. 

Quartiersgenossenschaften können einen nachhaltigen „Impact“ erzielen

Genossenschaftliche Innovationsökosysteme können im Rahmen einer Quartiersentwicklung zum Beispiel in Form einer Quartiers- beziehungsweise Dachgenossenschaft initiiert werden. Diese am genossenschaftlichen Modell angelehnte Dachorganisation ist eine Kooperation aus selbständigen, bereits etablierten Genossenschaften, lokalen Unternehmen oder gemeinschaftlichen Wohnprojekten, die Impulse für die lokale Entwicklung liefern, Ideen zur Stadterneuerung generieren und mit ihren Pro-jekten „Impact“ schaffen. Dies betrifft nicht nur die Planung und Schaffung neuer Wohn- und Arbeitsformen oder bezahlbaren Wohnraums an sich. Der Fokus richtet sich auch auf alle mit Quartierlösungen verbundene Bereiche, wie beispielsweise Gebäudesanierung, Energieversorgung (erneuerbare Energien, Energieeffizienz), Mobilität (Car-Sharing, ÖPNV), Gesundheit und Pflege, Kultur- und Begegnungsstätten, Nahversorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs etc. Quartierskonzepte müssen also komplexe demografische, immobilienwirtschaftliche, soziale, städtebauliche, baukulturelle sowie Mobilitäts- und Umweltaspekte berücksichtigen. Damit einher geht eine Vielzahl unterschiedlicher Stakeholder mit meist heterogener Interessenlage. Quartierlösungen ermöglichen und erfordern einen integrierten, stakeholder-übergreifenden und kooperativen Handlungs- und Entscheidungsansatz, um Ziele beziehungsweise Zielkonflikte in Einklang zu bringen und den Interessenausgleich von Beginn an zu fördern. Relevante Anspruchsgruppen wie Baugruppen, Projektgesellschaften, Kommunalverwaltung, etc. beteiligen sich aktiv im transdisziplinären  Entwicklungsprozess. Dadurch kann das Kreativitätspotenzial der Beteiligten erschlossen, gebündelt und zur Schaffung innovativer Lösungen in der Quartiersentwicklung genutzt werden. Folglich steigen auch Akzeptanz und Identifikation der beteiligten Anspruchsgruppen für gemeinschaftlich geschaffene Lösungen und damit auch die Motivation, sich von Beginn an gestaltend einzubringen. 

Um die Kreativität der Beteiligten und den Austausch zu fördern sowie gemeinsam innovative Lösungen zu entwickeln, können interaktive Workshop-Formate genutzt werden, zum Beispiel Inkubatoren („Brutkästen“), Acceleratoren („Beschleuniger“), Hackathons/Ideathons/Makeathons, MakerSpaces/FabLabs („Fabrikationslabor“). In diesem Kontext bietet gerade die genossenschaftliche Rechtsform einen adäquaten Rahmen, um die mit der Quartiersperspektive einhergehende Komplexität in einer integrierten, gruppen- und problemübergreifenden Herangehensweise erfolgreich zu managen. Quartiers- und Dachgenossenschaften könnten als „Kümmerer“, Koordinatoren und „Hub for Innovations“ fungieren, um mit Politik, Verwaltung, Baugruppen, Wohnungs-, Versorgungs- und sonstigen Unternehmen, Bürgerschaft und zivilgesellschaftlichen Akteuren gemeinsam innovative Quartierslösungen zu entwickeln. 

Das vom BWGV koordinierte Förderprojekt „Genossenschaftlich getragene Quartiersentwicklung“ zeigt anhand von unterschiedlichen Beispielen auf, wie dies gelingen kann. Ein weiteres Beispiel liefert die Dachgenossenschaft Wohnen Tübingen, ein von der Stadt Tübingen initiiertes und finanziell unterstütztes Genossenschaftsprojekt. Im Kern handelt es sich um einen Zusammenschluss von selbständigen gemeinschaftlich organisierten Wohnprojekten der Region. Die „Dachgeno Wohnen“ unterstützt in der Planung, Finanzierung, bei Bau und Bewirtschaftung von individuellen Wohnprojekten. Auf Basis der genossenschaftlichen Prinzipien (Selbsthilfe, Selbstorganisation und Selbstverantwortung) sowie der demokratischen Willensbildung schafft die Genossenschaft die Voraussetzung für eine unabhängige und gemeinschaftliche Entwicklung von Wohnraum und -umfeld. Hierbei werden auch negative Auswirkungen der Immobilienspekulation berücksichtigt, in dem den Mitgliedern ein lebenslanges Wohnrecht eingeräumt und ein langfristig bezahlbares und sicheres Wohnumfeld garantiert werden. Diese Sicherheit ist vor allem in einer Universitätsstadt mit chronischem Wohnungsmangel und hohen Mietpreisen von besonderer Bedeutung (weitere Informationen zu „Dachgeno Wohnen Tübingen“ unter https://www.dachgeno-tue.de/index.html). 

Genossenschaftliche Potenziale für Quartierslösungen

Für Quartiere, die auf Basis genossenschaftlicher Modelle entwickelt werden, lassen sich vielfältige Potenziale nutzen. Die genossenschaftliche Governance-Struktur schafft basisdemokratische Willensbildungsprozesse, unterbindet primär renditeorientierte Beteiligungsmotive und schafft durch ein gemeinsames Förderziel (Förderzweck gem. §1 GenG) eine konsensfähige Basis für die in Quartiersprojekten vorherrschenden Akteursvielfalt  mit hohem Planungs-, Koordinierungs- und Kommunikationsaufwand. Die gemeinsame Quartiersentwicklungschafft gerade durch die Mehrfachfunktion der Mitglieder eine hohe Identifikation und Verbundenheit und somit ein „Wir-Gefühl“ mit ihrer Genossenschaft. Die Aufnahme weiterer Mitglieder verstärken die Teilhabe und Aktivierung verschiedener Akteure im Quartier für neue Ideen und Projekte. 

Schließlich eröffnen sich den genossenschaftlich organisierten Quartieren auch ökonomische Vorteile, so zum Beispiel beim zentralen Bezug von Baustoffen, Planungs-, Umsetzungs- und Wartungsdiensten oder bei der Reduktion von Investitionskosten bei Haustechnik und Energieversorgung durch Vernetzung von Gebäuden (Kostenvorteile durch Skaleneffekte). Hinzu kommen quartierbezogene Geschäfts-, Betreiber- und Kooperationsmodelle für die technische Infrastruktur, Wohnungsunternehmen und Immobilieneigentümer. Hierfür bieten Dachgenossenschaften als Solidargemeinschaften eine flexible Organisationsform und helfen bei der Suche nach bedarfsgerechten Lösungen. Dabei sind diejenigen Quartiersprojekte am erfolgversprechendsten und nachhaltigsten, bei denen Menschen und Institutionen durch Partizipation vor Ort an zukunftsweisenden Entscheidungen direkt beteiligt sind.Genossenschaftsneugründungen belegen im wohnwirtschaftlichen Kontext die vielfältigen Potenziale, die kreative und innovative Ideen in der Gemeinschaft von Mitgliedern hervorbringen und damit attraktive und lebendige Quartiere schaffen können.

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