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Ärztegenossenschaft behebt Landarzt-Notlage

Landarzt-Notlage
BWGV

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Und plötzlich ist die Tür zu. Er ist weg, der letzte Hausarzt in Bitburg. Nach Trier sind es etwa 30 Kilometer – für ältere Semester kein Klacks. Und für Dr. med. Michael Jager ein Problem. Nach 27 Jahren Landarzt-Praxis möchte der 65-Jährige in den Ruhestand gehen, fand aber keinen Nachfolger. Doch seine Patienten konnte er auf keinen Fall im Stich lassen. Seine „genial einfache Idee“: Der Praxischef wurde zum Genossenschafter und gründete eine Ärztegenossenschaft.

Wenn die Arzthelferin Hiltrud Becker die Praxistür aufschließt, stehen bereits mehrere Patienten im Treppenhaus. Im Nu ist im Wartezimmer des Bitburger Hausarztes Dr. med. Michael Jager kein Stuhl mehr frei. Bis zu 100 Patienten behandelt der 65-Jährige manchmal an einem Vormittag: „Magen-Darm, Erkältung, Husten, Schnupfen, Heiserkeit und auch Depressionen – die Bude ist oft so voll, dass ich hin und her renne wie ein Dilldöppchen (Anm. d. Red.: rheinische Umgangssprache für kleines, lebhaftes Kind)“, sagt Dr. Jager trocken mit seiner dem Kölschen ähnlichen Eifeler Mundart.

Gerne würde er sich zur Ruhe setzen oder zumindest etwas kürzertreten. Aber das geht nicht. Die jahrelange Suche nach einem Nachfolger für seine Praxis blieb leider erfolglos. Und seinen Patienten will er keinen langen Weg zum nächsten Hausarzt zumuten. Bitburg ist zwar weltbekannt wegen des dort gebrauten Bieres, doch das reicht nicht, um junge Mediziner in das idyllisch gelegene 15.000-Einwohner-Örtchen zu locken. „Die heutige Generation will flexible Arbeitszeiten, ein festes Gehalt und kein finanzielles Risiko“, sagt Dr. Jager.

Dr. Jager ist kein Einzelfall. Immer mehr Landärzte finden keinen Nachfolger. Auch der Allgemeinmediziner Dr. Gerhard Wetzig (62) und sein Kollege Dr. Carl-Reinhard Albilt (71) aus dem 5.200-Einwohner-Dorf Lindenfels im Odenwald suchten vergeblich.

„Genial einfach“

Und dann fanden sie eine Lösung, „genial einfach“, wie Jager und seine Kollegen immer wieder betonen: Sie gaben ihren Status als Praxischef auf und wurden zu Genossenschaftsmitgliedern. Dazu gründeten die Landärzte eine Genossenschaft. Es sind die ersten beiden Genossenschaften in Deutschland, die von den Kassenärztlichen Vereinigungen als Trägerin eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) zugelassen wurden: Im Juli 2018 hat die Ägivo eG (kurz für Ärztegenossenschaft Gesundheitsversorgung im Vorderen Odenwald) die MZV-Zulassung erhalten und im Januar 2019 die Medicus Eifeler Ärzte eG. Möglich wurde dies nur, weil die R+V Versicherung das Regressrisiko und die Bürgschaftserfordernis absicherte.

So einfach das klingt, so kompliziert war der Weg dahin: Lange pochten die Kassenärztlichen Vereinigungen nämlich auf eine selbstschuldnerische Bürgschaft mit persönlicher Haftung des einzelnen Arztes und akzeptierten die Absicherung durch einen Versicherer nicht. Dr. Jager wandte sich hilfesuchend an die Volksbank Eifel eG, deren Vorstandsmitglied Andreas Theis direkt den Koblenzer R+V-Filialdirektor Tobias Wolfgang Grüger anrief, um nach den Möglichkeiten für eine Regressschutzversicherung für eine Ärztegenossenschaft zu fragen.

Rat und Tat der R+V

Eine Regressschutzversicherung in Kombination mit einer Bürgschaft hatte die R+V bis dato zwar gar nicht auf Lager, erzählt Filialdirektor Grüger. Doch da er die gesellschaftliche Notwendigkeit zu handeln erkannt hatte, hat er den R+V-Großkundenbetreuer Winfried Ramsel eingeschaltet. „Als genossenschaftlicher Versicherer haben wir das genossenschaftliche Prinzip einfach gelebt und den gesamten Zulassungsprozess für die Ärztegenossenschaft beratend begleitet“, sagt Grüger. Ramsel, der von Haus aus Jurist ist, hat dann gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen BL Healthconsult und dem Fachbereich Banken/Kredit ein passendes Produkt geschneidert und immer wieder mit den Kassenärztlichen Vereinigungen juristische Feinheiten abgestimmt. Und dabei viel Geduld und Ausdauer bewiesen: „In diesem komplizierten Genehmigungsverfahren war viel Überzeugungsarbeit zu leisten“, sagt Ramsel, der von Rolf Weiß, Abteilung Kaution, intensiv unterstützt wurde.

Patienten sind erleichtert

Ob die Ärztegenossenschaft tatsächlich im großen Stil Nachwuchs-Mediziner aufs Land lockt, muss sich noch zeigen. Denn erst seit der Zulassung kann richtig die Werbetrommel mit Flyern und auf Internet-Portalen gerührt werden. Dr. Jager hat bereits eine Kollegin gefunden und in Teilzeit eingestellt. Sie war den Schichtdienst im Krankenhaus leid. Dass er inzwischen seine Praxis an die Medicus eG verkauft hat – „deutlich unter Marktwert“, wie er sagt – und nicht mehr Praxischef ist, sondern Angestellter, kann er verkraften: „Es ist jetzt ein völlig entspanntes Arbeiten“, lächelt er. Susanne Lichter ist seit 27 Jahren Jagers Patientin. Die 80-Jährige ist wie Brigitte Heyen-Degen (55) „einfach nur froh“, dass sie weiterhin einen Hausarzt in erreichbarer Nähe haben und bei Beschwerden nicht ganz nach Trier müssen. Jagers Nachfolgerin sei „nett und zuvorkommend“.

Da immer mehr Landärzte sich dem Pensionsalter nähern, könnte das Genossenschaftsmodell für Medizinische Versorgungszentren zahlreiche Nachahmer finden und zum Erfolgsmodell für die medizinische Versorgung auf dem Land werden, sind alle Beteiligten überzeugt.

„Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen meiner Generation würden gerne über das reguläre Ruhestandsalter hinaus ihre Patienten weiter betreuen, aber gleichzeitig ihre Arbeitsbelastung schrittweise reduzieren“, sagt Dr. Jager. Diesen Praxisinhabern biete die Genossenschaft flexible und auf die persönliche Situation zugeschnittene Übergangsmodelle an. „Die Erhaltung des Engagements dieser Generation ist unverzichtbar für eine stabile Versorgungssituation, denn bis mittel- und langfristig Maßnahmen wie die Landarztquote im Studium und der weitere Ausbau der Weiterbildungsmöglichkeiten für Allgemeinmediziner zu einer Entspannung des Ärztemangels in ländlichen Regionen führen, kann es noch etliche Jahre dauern.“

Medizinische Versorgungszentren als eG

  • Praxisgemeinschaften und Netzwerke zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung sind meist Vereine, GmbHs oder BGB-Gesellschaften. Dass eine Genossenschaft als Trägerin eines Medizinischen Versorgungszentrums (MVZ) zugelassen ist, ist neu in Deutschland.
  • Praxen, die keine Nachfolger finden, werden von der Genossenschaft gekauft. Die Ärztegenossenschaften stellen Ärzte ein und übernehmen alle unternehmerischen Risiken.
  • Das Regressrisiko trägt die Genossenschaft und sichert es bei der R+V ab. Die Angst vor dem finanziellen Regress bei Überschreitung des Honorar- und Verordnungsbudgets hält junge Mediziner – die meisten Absolventen sind Frauen – davon ab, sich freiberuflich auf dem Land niederzulassen.
  • Jedes Genossenschaftsmitglied ist gleichberechtigt und hat eine Stimme. Mitglieder könnten nur zugelassene Mediziner werden.

Engagement des BWGV: Modellprojekt genossenschaftliche Hausarztversorgung

Der BWGV hat in Kooperation mit dem Gemeindetag Baden-Württemberg und dem Hausärzteverband genossenschaftliche Modelle entwickelt, die gemeinsam mit dem Sozialministerium und dem Ministerium für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz umgesetzt werden sollen. Unterstützung erfährt das Projekt vom Kabinettsausschuss Ländlicher Raum. Die Umsetzung erfolgt in zwei Stufen: Seit September 2018 wurde ein Jahr lang eine Machbarkeitsanalyse in sieben beteiligten Kommunen Baden-Württembergs durchgeführt. 2020 wird die zweite Förderphase starten, die dazu dient, die Modelle in der Praxis zu erproben. Junge Ärzte sollen im Angestelltenverhältnis praktizieren können. Zudem ermöglicht dieses Konstrukt Bürgern, Vereinen und Unternehmen, sich aktiv einzubringen und das Projekt zu ihrem Projekt zu machen, um mit den Kommunen einen Beitrag zur Infrastruktur vor Ort zu leisten.

Die Modelle sehen ein Einbindung von zwei Komponenten vor: Die (Bürger-)Beteiligungs-eG stellt einen kaufmännischen Geschäftsführer sowie weiteres Personal zur Bewältigung der bürokratischen Aufgaben an. Die Medizinischen Versorgungszentren (MVZ eG) leisten, optional unter vertraglicher Einbindung der Beteiligungs-eG, die eigentliche medizinische Versorgung vor Ort.

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