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Genossenschaften haben Zukunftspotenzial

Gemeinsam sind wir stark
Stephanie Hofschlaeger / pixelio.de

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Es wäre ein interessantes Umfrage-Thema:

An was denken Sie, wenn Sie Genossenschaften hören?

Ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen zuerst die Volksbanken und Raiffeisenbanken nennen würden. Und dies zu Recht: Schließlich stellen die aktuell 209 Genossenschaftsbanken in Baden-Württemberg mit rund 3,63 Millionen Teilhabern den mit weitem Abstand größten Anteil aller Genossenschaftsmitglieder. Die auf Transparenz, Fairness und Mitbestimmung ausgerichteten genossenschaftlichen Regionalbanken haben in den zurückliegenden Jahren der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise viel Vertrauen von den Bürgerinnen und Bürgern geschenkt bekommen, die erkannt haben: Es macht einen großen Unterschied, ob eine Bank lediglich kurzfristige Renditeerwartungen erfüllen muss oder ob sie nachhaltig und in Generationen denkt, da sie allein ihren Mitgliedern verpflichtet ist. Hinzu kommt: Die Finanzierung des Mittelstands wäre ohne die Volksbanken und Raiffeisenbanken nahezu nicht möglich.

Was würden die Menschen bei der Befragung noch antworten? Die ländlichen Raiffeisengenossenschaften sind ebenfalls sehr bekannt: Die Raiffeisenmärkte sind stark im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ebenso wie die zahlreichen Winzer- und Weingärtnergenossenschaften. Der ein oder andere würde eventuell noch wissen, dass weitere Sparten in der Landwirtschaft sehr stark genossenschaftlich geprägt sind: Genossenschaften sind für rund zwei Drittel der Milch, etwa 50 Prozent der Getreideernte und ein Drittel in der Viehvermarktung und Fleischverarbeitung verantwortlich.

Doch würden die Menschen bei der Umfrage auch wissen, dass es Schulen und Kindertagesstätten, Gärtnereien und Druckereien gibt, die genossenschaftlich organisiert sind? Dass sich Mediziner zu Gesundheitsgenossenschaften zusammenschließen? Oder dass die Handelsriesen Intersport und Euronics eingetragene Genossenschaften sind? Dass sich Fach- und Einzelhändler, Handwerker oder Omnibusunternehmer zusammengeschlossen haben,  ebenso wie Fleischer und Metzger oder ein Großteil der Bäcker? Würden die Befragten wissen, dass manche Kinos und Schwimmbäder, Gasthäuser oder kleine Lebensmittelgeschäfte genossenschaftlich strukturiert sind, da diese sonst gar nicht mehr existieren würden?

Rund 50 verschiedene Branchen

Noch nie gab es in Baden-Württemberg so viele unterschiedliche Genossenschaften wie heute: Die aktuell knapp 850 Unternehmen in der Rechtsform der „eingetragenen Genossenschaft“ (eG) verteilen sich auf rund 50 verschiedene Branchen. Dies liegt insbesondere an den Neugründungen der vergangenen Jahre: Während gerade bei den Banken und im landwirtschaftlichen Bereich bereits seit längerem eine Konsolidierung stattfindet, haben sich Genossenschaften stark in neuen Branchen und Zukunftsmärkten gegründet. In den zurückliegenden zehn Jahren sind in Baden-Württemberg unter dem Dach des BWGV rund 250 neue Genossenschaften entstanden. Der Löwenanteil liegt mit allein etwa 140 Neugründungen im Bereich regenerativer Energien, wobei die meisten davon in der Stromproduktion tätig sind. Im Energiesektor gibt es großes Potenzial bei Nahwärmeprojekten ebenso im Bereich von Konzepten zur Energieeinsparung.

Es ist beeindruckend zu sehen, dass Genossenschaften mit ihrem stark basisdemokratischen und transparenten Geschäftsmodell insbesondere dort ansetzen, wo drängende gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen warten – und dies nicht nur in der Bewältigung der Energiewende.

Pragmatische Lösungen

Ein gutes Beispiel ist der Umgang mit den Folgen des demografischen Wandels: Gerade im ländlichen Raum haben immer mehr Regionen mit abnehmenden Bevölkerungszahlen und Strukturverarmung zu kämpfen. Die Auswirkungen sind oft deutlich erkennbar: Öffentliche Gelder für Bildungs-, Kultur- oder Freizeiteinrichtungen werden knapper, Geschäfte und Arztpraxen schließen und auch infrastrukturelle Probleme tauchen auf, da sich die Anbindung an die schnellen Datenautobahnen für die Netzanbieter oft nicht lohnt und auch eine gute Taktung im öffentlichen Nahverkehr nicht aufrecht erhalten werden kann.

Bildungsgenossenschaften

Genossenschaften bieten schon heute ganz pragmatisch Lösungen: Eltern organisieren genossenschaftlich Schulen wie etwa das Peter-Härtling-Gymnasium in Nürtingen oder den Kindergartenbetrieb, wie den der Waldorf-Kindertagesstätte in Gengenbach. Bürgerinnen und Bürger gründen Genossenschaften, um das Schwimmbad am Laufen zu halten, um ein Dorfgasthaus mit Kleinkunstbühne zu betreiben oder damit das Kino weiterhin öffnen kann. Und Dorfläden sichern die Möglichkeit, im Ort die wichtigsten Dinge für den Alltag einkaufen zu können. Beispiele für solche aus der Bürgerschaft heraus angestoßene und umgesetzte Genossenschaften, die durchaus auch wirtschaftlich erfolgreich sind, gibt es immer mehr in Baden-Württemberg.

Mobilitätsgenossenschaften

Im Bereich von Bürgerbussen, Car- oder Bike-Sharing sind ebenfalls Genossenschaften denkbar, um die nachhaltige Mobilität außerhalb der Ballungszentren sicher zu stellen. Und beim Breitbandausbau kann es mehr als ein Ansatz sein, dass eine eG als Eigentümerin der Netzinfrastruktur fungiert und diese dann an einen Anbieter vermietet. Ich bin davon überzeugt, dass die ohnehin schon beeindruckende Vielfalt von Genossenschaften durch diese Bereiche bald noch weiter zunehmen wird.

Seniorengenossenschaften

Immer wichtiger wird die Frage nach der Versorgung von Senioren – und dies unabhängig davon, ob auf dem Land oder in der Stadt: Seniorengenossenschaften schließen Versorgungslücken für ältere Menschen und tragen so dazu bei, dass diese eigenständig bis ins hohe Alter in ihrem vertrauten Umfeld leben können. Ein Beispiel dafür ist die Genossenschaft „WoGA Pfullendorf – Wohnen und Gesundheit im Alter“, die als Eigentümerin und Bauherrin eines altersgerechten Gebäudes Menschen die Möglichkeit bietet, im Alter selbstbestimmt wohnen zu können. Sie ist die erste Genossenschaft für stationäre Pflege in Baden-Württemberg und die zweite bundesweit.

Genossenschaften im Gesundheitswesen

Eine zentrale Rolle können Genossenschaften im Gesundheitswesen und in der Sicherstellung ärztlicher Versorgung spielen – gerade vor dem Hintergrund, dass in Baden-Württemberg jeder vierte Hausarzt über 60 Jahre alt ist. Genossenschaftlich geführte Praxen können einen wichtigen Beitrag leisten, eine flächendeckende Versorgung sicher zu stellen. Zwei Modelle haben hierbei Potenzial: Zum einen, dass Kommunen oder Bürger Praxisräume finanzieren und betreiben, die dann von Ärzten in Voll- oder Teilzeit genutzt werden können. Denkbar sind durchaus auch mehrere Ärzte, die sich den Dienst teilen. Zum anderen sind Zusammenschlüsse mehrerer Ärzte, auch unterschiedlicher Fachrichtungen, zu Praxisgenossenschaften denkbar. Die Vorteile liegen auf der Hand: Sie können sich Sprechzeiten, Verantwortlichkeiten, Verwaltung oder auch Personal mit Kollegen teilen. Und die Patienten profitieren durch Verlässlichkeit und hohe Qualitätstandards. In Baden-Württemberg gibt es derzeit 16 Genossenschaften im Gesundheitswesen. In Heilbronn sind gerade Notärzte dabei, eine Genossenschaft zu gründen. Die Zusammenschlüsse von Medizinern aber auch Apothekern oder Krankenhäusern haben darüber hinaus den Vorteil, dass sie gemeinsam eine bessere Verhandlungsposition gegenüber Industrie und Großhandel haben, als wenn sie alleine auftreten.

Günstige Einkaufskonditionen, die Synergien in der Verwaltung und bei der Vermarktung sowie die Bündelung verschiedener Kompetenzen treiben auch immer mehr Freiberufler und Selbstständige an, die Rechts- und Unternehmensform der eingetragenen Genossenschaft zu wählen. IT-Dienstleister, Kreative aus der Werbebranche oder auch Ingenieure entdecken die Genossenschaft, ebenso wie auch Kommunen und Städte, etwa in den Bereichen von Ver- und Entsorgungsleistungen, Wirtschaftsförderung oder im Stadt- und Tourismusmarketing.

Erfolgsfaktor Flexibilität

Doch warum sind es gerade Genossenschaften, die perfekt zur Bewältigung vieler Zukunftsherausforderungen in Wirtschaft und Gesellschaft geeignet sind, wie demografischer Wandel, Digitalisierung, Individualisierung, Globalisierung oder das Bedürfnis nach mehr Mitbestimmung und Beteiligung? Genossenschaften verfügen über Eigenschaften, die sie sehr flexibel und praxisorientiert auf Umbrüche und neue Herausforderungen reagieren lassen. Dazu gehört insbesondere die Tatsache, dass Genossenschaften dem Wunsch der Bevölkerung nach Mitbestimmung, Transparenz und Demokratie auf ideale Weise nachkommen. Denn die Genossenschaften gehören ihren Mitgliedern, die unabhängig von der Höhe des eingebrachten Kapitals alle eine Stimme haben. Damit sind sie ungemein modern und zukunftsorientiert. Außerdem ist die eG auf mehrdimensionale Nutzenschaffung und Wertegenerierung ausgerichtet: Unterschiedliche Gruppen können ihre jeweiligen Interessen wahren und ihre Eigenständigkeit behalten – und trotzdem die Vorteile der Kooperation nutzen.

Mehr als 3,8 Millionen Genossenschaftsmitglieder gibt es im Südwesten, was bedeutet, dass mehr als jeder dritte Einwohner in Baden-Württemberg Mitglied mindestens einer Genossenschaft ist. Damit ist Baden-Württemberg das Land mit der bundesweit größten Genossenschaftsdichte. Daher wurde das Jahr 2015 zum Baden-Württembergischen Jahr der Genossenschaften ausgerufen. Es soll dazu beitragen, dass noch mehr Bürgerinnen und Bürger wissen: Genossenschaften sind perfekt zur Bewältigung vieler Zukunftsherausforderungen geeignet. Sie wirken ungemein zielgerichtet und prägen in ihrer Vielfalt unsere sich verändernde Wirtschaft und Gesellschaft mit.

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