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„WohnenPLUS entspricht dem Lebensgefühl vieler Menschen“ – Interview mit Architektenkammer-Präsident

WohnenPlus BWGV
jelep / pixelio.de

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Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, der demografische Wandel und die geänderten Ansprüche an die Gestaltung der persönlichen Lebensumstände sowie der gestiegene Wunsch nach regionaler Partizipation bringen neue Herausforderungen mit sich. Dem BWGV geht es darum, genossenschaftliche Initiativen, bestehend aus Bürgern und unter Einbindung von Kommunen und Landkreise, Vereinen, Stiftungen und Unternehmen, zu begleiten, um durch eine ganzheitliche Quartiersentwicklung ein Lebensumfeld zu schaffen, in dem sich die Menschen vor Ort in unterschiedlichen Handlungsbereichen einbringen.

Diese Tätigkeitsfelder erstecken sich beispielsweise von Betreuungs- und Pflegeangeboten sowie haushaltsnahen Dienstleistungen und einer Basisversorgung über Mobilitäts- und Energiekonzepte bis hin zu Inklusions-/Mehrgenerationen-/Gesundheitsprojekten. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind bedeutsam, sowohl im ländlichen Raum als auch in städtischen Quartieren. Gemäß dem Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ bieten Genossenschaften in diesem Kontext zukunftsweisende Lösungsansätze, zum Beispiel im Rahmen der BWGV-Modelle zu WohnenPLUS (Wohnen verbunden mit Dienstleistungen).

WohnenPLUS steht für Wohnen verbunden mit Dienstleistungen, die einen Mehrwert über einzelne Objekte hinaus für das gesamte Quartier bieten (und gegebenenfalls zu weiteren gemeinsamen Dienstleistungen führen). Genossenschaften verfügen über Eigenschaften, die sie sehr flexibel, praxisorientiert und nachhaltig auf Umbrüche und Herausforderungen vor Ort wie bezahlbaren Wohnraum und eine gute Infrastruktur reagieren lassen. Hierbei gibt es drei BWGV-Modelle für WohnenPLUS: Nutzung eines Hauses oder mehrerer Häuser in genossenschaftlicher Hand; Gründung einer Dienstleistungsgenossenschaft zum Management eines Quartiers; (ganzheitlichliche) genossenschaftlich organisierte Quartiersentwicklung.

Die Geno-Graph-Redaktion sprach in diesem Zusammenhang mit Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg.

Herr Müller, wie sehen Sie die Chancen für die ganzheitliche Quartiersentwicklung – im Gegensatz zum Fokus auf Einzelimmobilien?

Markus Müller Architektenkammer Interview zu WohnenPlus BWGV
Diplom-Ingenieur Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg, ist Freier Architekt und Freier Stadtplaner im oberschwäbischen Meckenbeuren (Bodenseekreis).

Die Gesellschaft verändert sich. Mehr ältere Menschen leben in immer größerer Anzahl alleine. Um sich in ihrer Lebenssituation wohlzufühlen, fragen sie zunehmend die Assistenzleistungen nach, die Sie in Ihrer Einleitung beschrieben haben – am liebsten in der gewohnten Umgebung. Die Stadtsoziologie beschreibt diesen Zusammenhang als „Sozialraumorientierung“. Insofern ist eine ganzheitliche Quartiersentwicklung eine neue Aufgabe der Stadtplanung, also nicht nur der Neubau von Stadtteilen oder Baugebieten, sondern die buchstäbliche Gestaltung des Wandels im Bestand.

Welche Anknüpfungspunkte zum BWGV sehen Sie zum Beispiel in den Bereichen regenerative Energieversorgung, Mobilitätskonzepte, integrierte haushaltsnahe Dienstleistungen und Betreuungsangebote?

Sie formulieren geradezu die Schlüsselfragestellungen unserer Zeit. Positiv ist, dass es einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass Bürgerinnen und Bürger, Politik und Wirtschaft gefordert sind, Antworten zu erbarbeiten. Die Architektenkammer trägt dazu aus der spezifischen Kompetenz der Kolleginnen und Kollegen aus Architektur, Stadtplanung, Landschafts- und Innenarchitektur bei.

Unsere Idee ist es, dass die Lösungen nur in diskursiven Prozessen entstehen werden. Beispielsweise in der CO2-Referenzierung der Energieverbräuche von Gebäuden, die einen realistischen Bezug zur Klimarelevanz herstellen, eine Betrachtung im Lebenszyklus möglich machen und die regenerative Energieerzeugung im Quartier zur Bezugsgröße ermöglichen wird. Wir arbeiten hier eng mit der Wissenschaft und der Wohnungswirtschaft zusammen.

Oder in einer Solar-Initiative des Landes: Regenerative Energieerzeugung verändert Landschaftsbilder, Städte und Gebäude. Deshalb ist es notwendig, die Energiewende auch unter landschafts- und stadtästhetischen Aspekten zu gestalten. Darüber muss in einem reichen Hochtechnologieland gesprochen, daran muss gemeinsam gearbeitet werden. Das tun wir mit der Politik und den führenden Instituten an den baden-württembergischen Hochschulen.

Deshalb begrüßen wir die Idee eines „Kompetenzzentrums Wohnen“, in dem die Landesregierung einen Know-how-Transfer aus einem internationalen Erkenntnisniveau in konkrete Projekte vor Ort organisieren will. So interpretieren wir die Strategie des BWGV – wir sind gerne Ihr Gesprächs- und Lernpartner.

Wie steht die Architektenkammer zur Initiative WohnenPLUS?

WohnenPLUS greift aus unserer Sicht mehrere Aspekte eines zukunftsfähigen Wohnungsbaus auf: Die Initiative sieht Wohnen als ein soziales Phänomen und entwickelt daraus Programme für konkrete Projekte. WohnenPLUS ist dezentral organisiert, aktiviert lokale Ressourcen und das Gemeinschaftsverständnis vor Ort. Durch den Genossenschaftsgedanken bündelt die Initiative Kräfte, die ohne das gemeinsame Band nicht stark genug wären, Projekte zu realisieren. Die Architektenkammer sieht aus diesen Gründen WohnenPLUS als eine sehr inspirierende Initiative in der aktuellen Wohnungsbaudebatte im Land.

Im Rahmen des Archikon (Landeskongress für Architektur und Stadtentwicklung), der Ende März 2020 auf der Landesmesse Stuttgart stattfindet, wird der BWGV erneut mit einem Stand vertreten sein. Welche Perspektiven kann die Umsetzung von Bauprojekten mit genossenschaftlichen Initiativen eröffnen?

WohnenPLUS entspricht dem Lebensgefühl vieler Menschen, die lieber selbst ihre Lebensgestaltung in die Hand nehmen, als sich – von wem auch immer – bevormunden zulassen. Wenn wir die aktuellen Wohnungsfertigstellungszahlen zur Kenntnis nehmen, müssen wir feststellen, dass der Durchbruch in der Lösung der Wohnungsfrage nicht geschafft ist. Möglicherweise liegt das auch daran, dass die bisherigen Programme dieses Lebensgefühl noch nicht verstanden haben: Zukunftsfähiger Wohnungsbau ist für die Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg eben mehr als der Traum vom Einfamilienhaus.

Wohnen muss Bedürfnisse eines guten Zusammenlebens unterschiedlichster Gruppen befriedigen – und das bezahlbar für alle Menschen. Gerade in der Frage der Bezahlbarkeit steckt aber ein besonderer Reiz der genossenschaftlichen Organisation, weil so keine Bauträgergewinne aus dem Projekt abfließen. Insgesamt aber ist Baden-Württemberg erfolgreich, weil die Menschen ein starkes Gemeinschaftsgefühl haben. Dem entspricht der Genossenschaftsgedanke in hohem Maße.

Zudem wird Marian Schreier, Bürgermeister in Tengen (Kreis Konstanz) und Vorstandsmitglied der Ärztehaus Stadt Tengen eG, an der Archikon-Debatte zum Thema „tragfähige Strategien für die Entwicklung von Klein- und Mittelstädten“ teilnehmen. Kann dieses Projekt, der Bau eines Ärztehauses in genossenschaftlicher Hand, eine Vorbildfunktion für die Gesundheitsversorgung in ländlichen Regionen sein?

Darum haben wir Marian Schreier eingeladen. Offensichtlich gehen ja die dirigistischen Strategien der Gesundheitspolitik nicht nur am Bedarf in der Fläche unseres Landes vorbei, sie verstellen darüber hinaus den Blick auf reale Lösungsoptionen. Deshalb ist die Gängelung von Medizinstudierenden, Stichwort „Landarztpflicht“, der falsche Weg. Archikon steht dieses Jahr unter dem Leitthema „Unser Land neu denken“. Zu diesem positiven, innovationsfreudigen Politik- und Planungsansatz passt das Ärztehaus in Tengen hervorragend.

Gibt es aus Ihrer Sicht große Unterschiede bei der Planung und Umsetzung eines Bauvorhabens in privater versus genossenschaftlicher Trägerschaft?

Realistischerweise ja. Die Koordinationsleistung in der Planungsvorbereitung, in den Entscheidungsprozessen und in der Ausgestaltung des konkreten Raumprogrammes ist in genossenschaftlichen Projekten ähnlich wie bei Baugruppen sehr viel anspruchsvoller als bei privaten Bauherren mit nur wenigen Entscheidungsträgern. Die Notwendigkeit zur offenen Debatte und zum Konsens führt aber zu präziser vorbereiteten Projekten, die genauer die Bedürfnisse und Anforderungen der Nutzer befriedigen werden. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes tendenziell nachhaltiger.

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