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Wissenschaftliche Sicht auf genossenschaftliche Strukturen in Brasilien: Hohenheim auf Exkursion

Genossenschaften in Brasilien - Besuch der Forschungsstelle für Genossenschaftswesen Hohenheim
FGUH

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Die Forschungsstelle für Genossenschaftswesen an der Universität Hohenheim (FGUH) pflegt bereits seit mehreren Jahren den Kontakt zum genossenschaftlichen Verbund in Brasilien. Im Zentrum steht hierbei der gegenseitige Erfahrungsaustausch. Insbesondere für Fachexkursionsgruppen mit Vertretern des brasilianischen genossenschaftlichen Systems ist die Forschungsstelle für Genossenschaftswesen zu einem wichtigen Anlaufpunkt geworden. Über diese Besuche ist auch der Kontakt der Forschungsstelle zur internationalen Abteilung des Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverbands e.V. (DGRV) entstanden und intensiviert worden. Dabei ist auch ein Kontakt zur ersten Fachhochschule für Genossenschaftswesen in Brasilien, ESCOOP, hergestellt worden. Auf Einladung des DGRV und der brasilianischen Kollegen von ESCOOP reisten vom 28. Februar bis 8. März 2020 die Mitarbeiter der Forschungsstelle, Prof. Dr. Reiner Doluschitz, Dr. Nicola Gindele und Jana Munz, nach Porto Alegre, um das brasilianische Genossenschaftswesen näher kennenzulernen.

Kooperation des DGRV in Brasilien und Argentinien

Der DGRV führt seit einigen Jahren ein trilaterales Kooperationsprojekt in Brasilien (seit 2011) und Argentinien (seit 2014) durch. Das Ziel des Projekts ist es, die Kapazitäten des Verbands und der im Agrarsektor arbeitenden Genossenschaften zu stärken, um die Entwicklung und den laufenden Restrukturierungsprozess des Sektors zu unterstützen. Durchgeführt wird das Projekt im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL). Partner in Brasilien sind die genossenschaftliche Bildungseinrichtung SESCOOP/RS und der Regionalverband OCERGS, die beide Teil des genossenschaftlichen Systems und des Dachverbands „Organização das Cooperativas Brasileiras“ (OCB) sind. Zu diesem System gehört auch ESCOOP. In Argentinien besteht unter Federführung der „Casa Cooperativa“ (Sunchales, Provinz Santa Fé) eine sehr gute Verbindung zu allen wichtigen nationalen und regionalen Institutionen des Genossenschaftssektors.

ESCOOP und die brasilianischen Genossenschaften

Das Ziel von ESCOOP ist es, die nachhaltige Entwicklung der Genossenschaften, insbesondere in Rio Grande do Sul, zu fördern. ESCOOP bietet verschiedene Management Studiengänge (MBA) an, die berufsbegleitend absolviert werden. Daneben werden Aus- und Weiterbildungsangebote für Mitarbeiter aus den Genossenschaften bereitgestellt, wie Seminare zur Vermittlung von Grundwissen über die Rechtsform von Genossenschaften bis hin zur Organisation von Fachreisen in die USA oder nach Deutschland. ESCOOP hat inzwischen auch nationales Interesse über die Landesgrenzen von Rio Grande do Sul hinaus geweckt.

Unter anderem aus diesem Grund wird derzeit an der Akkreditierung eines 100-Prozent-E- Learning-Kurses gearbeitet, der ermöglichen wird, auch Studierende, die nicht aus der direkten Umgebung von Porto Alegre kommen, einen MBA zu absolvieren. Im Rahmen der Forschungsvorhaben beschäftigt sich ESCOOP derzeit mit den Themen rund um die Auswertung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Genossenschaften, Plattform-Genossenschaften und Innovationssystemen für Genossenschaften.

Derzeit ist ESCOOP auf der Suche nach weiteren Finanzierungsmöglichkeiten, um die genossenschaftlichen Forschungsvorhaben ausweiten und verfestigen zu können. Der Direktor von ESCOOP, Dr. Mário De Conto, ist seit seinem ersten Besuch in Deutschland vom Modell der Forschungsstelle für Genossenschaftswesen begeistert. Vor allem die Möglichkeit, wie in diesem Modell die Interessen von Forschung und Praxis in Verbindung gebracht werden, überzeugte ihn. Daher war ein wichtiger Auftrag der Hohenheimer, das Modell der Forschungsstelle für Genossenschaftswesen den Partnern in Brasilien detailliert zu erklären und eine mögliche Übertragbarkeit des Finanzierungsmodells auf die Situation von ESCOOP zu prüfen.

Struktur der Ländlichen Genossenschaften

Im weiteren Verlauf der Reise hatten die Hohenheimer die Möglichkeit, Einblicke in eine diversifizierte Molkereigenossenschaft und eine Winzergenossenschaft zu bekommen. Insgesamt gibt es aktuell 123 Ländliche Genossenschaften in Rio Grande do Sul. 319.279 Landwirtinnen und Landwirte sind Mitglied in den ländlichen Genossenschaften und 32.209 Mitarbeitende sind in den ländlichen Genossenschaften beschäftigt. Vor zehn Jahren gab es noch rund 300 Ländliche Genossenschaften in Rio Grande do Sul. Es zeigt sich somit, dass auch in Brasilien wie in Deutschland ein starker Konsolidierungsprozess unter den Ländlichen Genossenschaften stattfindet. Viele der Genossenschaften haben, geprägt durch ihre Mitglieder, europäische Wurzeln. Der Entwicklungsstand der Genossenschaften ist relativ hoch und sie haben eine große wirtschaftliche Bedeutung für die Landwirte und den Agrar- und Ernährungssektor. Zudem zeichnen sich die  Genossenschaften durch ein sehr starkes soziales Engagement in den Gemeinden, in denen sie tätig sind, aus.

Molkereigenossenschaft

Die Genossenschaftsmolkerei Santa Clara wurde 1912 von italienischen Einwanderern gegründet und ist die älteste Molkereigenossenschaft in Brasilien. In den vergangenen 107 Jahren hat sich Santa Clara von einer reinen Molkereigenossenschaft hin zu einer sehr erfolgreichen diversifizierten Genossenschaft entwickelt. Im Agrarbereich betreibt Santa Clara drei Milchverarbeitungsanlagen, sieben Zuchtsauen-Anlagen, einen Schlachthof, zwei Futtermittelwerke und einen Catering-Service. Im Bereich des Einzelhandels werden zwölf Supermärkte, 15 landwirtschaftliche Märkte (Raiffeisen-Märkte) und eine Apotheke betrieben. Die Genossenschaft hat insgesamt 5.353 Mitglieder. Die Struktur der landwirtschaftlichen Mitgliedsbetriebe wird von Kleinbetrieben mit etwa 20 bis 30 Milchkühen dominiert. Zur Förderung der Mitglieder beschäftigt die Genossenschaft 99 Fachberater (Agrarwissenschaftler, Tierärzte, Techniker etc.), die die Landwirte auf ihren Betrieben in produktionstechnischen Fragestellungen unterstützen. Diese intensiven Beratungsmaßnahmen haben in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass die Produktion (Milchmenge) kontinuierlich gesteigert sowie die Qualität der erzeugten Rohstoffe verbessert werden konnten.

Um die Kommunikation mit den Mitgliedern bestmöglich sicherzustellen, verfügt Santa Clara über ein ausgereiftes digitales Mitgliederportal. In den meisten Fällen findet die Nutzung der Plattform über ein Smartphone statt. Begrenzt wird dieses System derzeit dadurch, dass 30 Prozent der Mitglieder keine Internet-Verbindung haben. Auch viele andere Bereiche von Santa Clara sind digitalisiert worden. Im Bereich des Einzelhandels ist ein E-Commerce-Supermarkt eingeführt worden und auch die Apothekenprozesse wurden digitalisiert. In weiteren Digitalisierungsschritten sollen insbesondere die Logistiksysteme optimiert werden, um Transportkosten weiter senken zu können.

Bei einem Besuch auf dem landwirtschaftlichen Betrieb des Präsidenten von Santa Clara, Regerio Sauthier, konnten sich die Hohenheimer einen guten Überblick über die typischen Betriebsstrukturen der Mitgliedsbetriebe der Genossenschaften verschaffen.

Winzergenossenschaft

Die Winzergenossenschaft Garibaldi wurde 1931 gegründet und hat aktuell 420 Mitgliedsbetriebe. Die Region um Garibaldi zeichnet sich durch ein feuchtes Klima aus, weshalb sich die Region gut für die Produktion von Weißwein und Sekttrauben eignet. Der Wein wird häufig in Steillagen produziert, wodurch die Möglichkeiten für eine stärkere Mechanisierung der Traubenproduktion stark eingeschränkt sind. Die Betriebsgröße der Mitgliedsbetriebe liegt zwischen drei und 15 Hektar Rebfläche und ist somit mit der Betriebsgröße von Genossenschaftswinzern in Baden-Württemberg vergleichbar.

Bei der Produktauswahl konzentriert sich die Genossenschaft auf die Produktion von Sekt und Traubensaft. Für die Erzeugung des Traubensafts wird die amerikanische Lambrusco-Traube angebaut. Früher diente diese Traube zur Produktion von Tafelwein. Heute wird sie zur Erzeugung des Traubensafts genutzt. Fünf Fachberater betreuen die Mitgliedsbetriebe bei der Produktion. Die  Beratung zielt insbesondere darauf ab, die Winzer bei der Auswahl von Traubensorten zu unterstützen, da diese in Abhängigkeit der jeweiligen Nachfrage am Markt ausgewählt werden.

Garibaldi ist eine der ersten Winzergenossenschaften in Brasilien, die biologischen Wein, Sekt und Saft nach Demeter-Richtlinien produziert. Der derzeitige Anteil der biologischen Produkte beträgt 5 Prozent der gesamten Produktion. Es ist feststellbar, dass der Markt in diesem Bereich jedoch auch in Brasilien kontinuierlich wächst. Insbesondere der Traubensaft ist ein interessantes Produkt für die biologische Produktion, da er als gesundes Produkt gilt und eine Mehrzahlungsbereitschaft bei den Kunden gegeben ist.

Bisher ist das Exportvolumen der Genossenschaft noch nicht besonders groß. Über den Zusammenschluss „Wines of Brasil“, der die Exportbeziehungen fördert, findet bisher mit einem kleinen Volumen Export von Sekt nach USA, Kanada, Chile, Peru, Kolumbien, Nigeria, Russland und teilweise auch China statt.

2019 hat Garibaldi gemeinsam mit der Genossenschaftsbank Sicredi und der Kommunalverwaltung eine Schülergenossenschaft gegründet. Dies ist ein vergleichbares Projekt zu den Schülergenossenschaften in Deutschland und wird auch in Brasilien als eine sehr gute Möglichkeit gesehen, junge Menschen früh für das Genossenschaftswesen zu begeistern.

Der Besuch bei einem Mitgliedsbetrieb der Winzergenossenschaft, der neben Wein- auch Tafeltrauben produziert, bestätigte, dass die brasilianischen Winzer mit vergleichbaren Problemen wie die Winzerbetriebe in Baden-Württemberg zu kämpfen haben. Aus diesem Grund haben die brasilianischen Kollegen großes Interesse daran, sich mit Winzergenossenschaften in Baden-Württemberg auszutauschen, wobei besonders Fragen in Bezug auf das Innovationsmanagement aber auch zu Exportstrategien im Vordergrund stehen.

Geno-Seminar

Ein weiterer wichtiger Bestandteil des Aufenthalts war ein gemeinsam mit den brasilianischen Kollegen organisiertes Seminar mit Dozenten, Studierenden, Wissenschaftlern und Unternehmensvertretern aus Porto Alegre und Umgebung. Im Rahmen des Seminars wurden fünf Fachvorträge gehalten, bei denen die Themen Digitalisierung, Mitgliederbindung und Entwicklung ländlicher Räume sowie die Erläuterung der Struktur der Forschungsstelle für Genossenschaftswesen im Zentrum standen. Das Seminar ermöglichte es den beiden Forschungseinrichtungen, sich gegenseitig noch besser kennenzulernen und gemeinsame Forschungsaktivitäten zu identifizieren. So ist nun geplant, insbesondere beim Thema Digitalisierung stärker mit Doktoranden von ESCOOP zusammenzuarbeiten.

Brasilien Genossenschaften
Ein gemeinsam mit den brasilianischen Kollegen organisiertes genossenschaftswissenschaftliches Seminar mit Dozenten, Studierenden, Wissenschaftlern und Unternehmensvertretern aus Porto Alegre und Umgebung war Bestandteil des Besuchsprogramms.
Genossenschaften in Brasilien
Die Forschungsstelle-Mitarbeitenden zu Besuch bei der Cooperativa Santa Clara in Carlos Barbosa.

 

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