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Mangelwirtschaft Baden-Württemberg?

Axel Plünnecke vom Institut der deutschenWirtschaft
Gunter Endres/BWGV

Ab diesem Jahr können in Baden-Württemberg die altersbedingt aus dem Arbeitsleben ausscheidenden Fachkräfte nicht mehr vollständig ersetzt werden, meldete jüngst der Baden-Württembergische Industrie- und Handelskammertag (BWIHK). Die Botschaft klingt bedrohlich: Weder der ausgebildete Nachwuchs noch Personen aus der sogenannten stillen Reserve, also erwerbsfähige aber nicht erwerbstätige Menschen, oder Zuwanderung aus dem Ausland – trotz der aktuell aus dem Blickfeld geratenen beachtlichen Immigration aus EU-Staaten – würden von nun an die Lücke schließen. Die Statistiker der Kammer rechnen vor: 2030 werden rund 960.000 Fachkräfte weniger zur Verfügung stehen als heute. Dies wäre ein Rückgang um ein Viertel. Besorgniserregend dabei: Der Mangel betrifft laut IHK-Fachkräftemonitor dann erstmals alle Qualifikationsniveaus. „In den kommenden Jahren fehlen uns im Südwesten jährlich durchschnittlich 240.000 Fachkräfte. Selbst wirtschaftliche Schwächephasen werden dies nicht auffangen“, gibt Georg Fichtner, Präsident der IHK Region Stuttgart und Federführer Volkswirtschaft der zwölf IHKs im Land, zu Protokoll.

Seltene Spezies Techniker

Insbesondere Meister, Fachwirte und Techniker sind rar, beklagt die IHK. „In ein paar Jahren werden mehr als 15 Prozent aller Stellen für diese hoch qualifizierten Fachkräfte nicht zu besetzen sein, fast doppelt so viel Prozentpunkte wie bei Akademikern und betrieblich ausgebildeten Personen“, berichtet der IHK-Präsident. Überdurchschnittlich hoch falle dieser Mangel in den Bereichen Mechatronik und Automatisierungstechnik, technische Forschung und Entwicklung, Rohstoffgewinnung, Glas- und Keramikherstellung sowie Maschinenbau aus. Fichtner: „Unser Industriestandort hier im Südwesten wird damit ganz entscheidend getroffen.“

Forderung an Politik: Rahmenbedingungen verbessern

Im kaufmännischen Bereich sehe es nicht besser aus. Auch Ingenieure werde es weiter zu wenige am Arbeitsmarkt geben. Selbst der festgestellte Überschuss im Bereich der Hilfskräfte werde in den nächsten Jahren abschmelzen und ab 2025 halte in diesem Segment ein schleichend zunehmender Mangel Einzug. IHK-Präsident Fichtner warnt: „Sollte es nicht gelingen, rasch zusätzliche Fachkräftepotenziale zu erschließen, werden die Unternehmen Teile ihrer Aktivitäten ins Ausland verlagern oder im internationalen Wettbewerb kürzer treten müssen.“ Die Politik müsse weiter mit Hochdruck die Rahmenbedingungen für neue Fachkräftepotenziale verbessern. Dazu zählen laut IHK zum Beispiel die Verbesserung der schulischen Bildung, der bedarfsgerechte Ausbau der Kinderbetreuung oder die Flexibilisierung des Renteneintrittsalters.

Qualifizierung – eine Herkulesaufgabe

Wie inzwischen bekannt sei, werde der große Flüchtlingszustrom die Fachkräftelücke kurzfristig nicht füllen, ist man sich im BWIHK sicher. Denn die meisten Flüchtlinge brächten weder die nötigen Deutschkenntnisse noch eine passende Qualifikation mit. Eine Erkenntnis, die kaum von der Hand zu weisen ist. Dr. Herbert Brücker, Professor am Nürnberger Institut für Arbeitsmarktund Berufsforschung (IAB), geht davon aus, dass 70 Prozent der Flüchtlinge keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Das IAB schätzt, dass 2015 etwa 600.000 Menschen im erwerbsfähigen Alter nach Deutschland kamen. In diesem Jahr könnten noch einmal 200.000 bis 300.000 dazukommen. Lediglich einige geben freiwillig Auskunft über ihre Bildung, wenn sie ihren Asylantrag stellen. Demnach haben 25 Prozent der Menschen mit guter Bleibeperspektive nur eine Grundschule oder gar keine Schule besucht. „Umso wichtiger ist es, die Flüchtlinge so schnell wie möglich fit für unseren Arbeitsmarkt zu machen“, erklärt der regionale IHK-Präsident Fichtner. „Da ein Großteil der Flüchtlinge jünger als 30 Jahre ist, stehen die Chancen gut, die Menschen über unsere Bildungs- und Ausbildungssysteme in den Arbeitsmarkt zu integrieren“, so Fichtner. Damit könnte den Unternehmen eine ihrer größten Sorgen genommen werden. In den IHK-Konjunkturumfragen zählen in der Tat regelmäßig über 40 Prozent der Befragten den Fachkräftemangel zu den bedeutendsten Geschäftsrisiken für ihr Unternehmen.

Integrationsgesetz als Basis für Einwanderungsgesetz

Das weiß auch Prof. Dr. Axel Plünnecke. Der Leiter des Kompetenzfelds Bildung, Zuwanderung und Innovation am Kölner Institut der deutschen Wirtschaft beschäftigt sich seit rund zehn Jahren mit dem Thema Fachkräftesicherung. Er ist sich sicher: Die Flüchtlingswelle ist eine enorme Chance. Wie man sie aus seiner Sicht nutzen muss, erläuterte der Wissenschaftler jüngst in einem Vortrag bei der Handwerkskammer Region Stuttgart. Für ihn ist klar, dass der Erwerb der deutschen Sprache das Haupthemmnis für eine Integration in den Arbeitsmarkt darstellt. „Deutschunterricht in erheblichem Umfang“ sei unerlässlich. Plünnecke plädiert für eine „verpflichtende Sprachförderung und eine obligatorische Teilnahme an Integrationskursen“. Seine Forderung an die Bundespolitik lautet: „Wir benötigen ein Integrationsgesetz als Einstieg in ein – das ist dann der nächste Schritt – Einwanderungsgesetz.“ Der Wissenschaftler gibt sich durchaus optimistisch: Im Vergleich zu den frühen 1990er Jahren, der jüngsten in etwa vergleichbaren Immigrationswelle, sei das Integrationsengagement der Bevölkerung deutlich größer. Auch der Arbeitsmarkt in Baden-Württemberg biete deutlich bessere Voraussetzungen als damals. Die große Frage sei, wie lange es dauere, Flüchtlinge in großem Stil in den Markt für qualifizierte Arbeit einzugliedern. Plünnecke hofft, dass es schneller gehen werde als in den 1990er Jahren, als viele Jahre ins Land gingen. „Die Netzwerke für eine Integration von Flüchtlingen in den Fachkräfte-Arbeitsmarkt sind vorhanden“, so der Fachmann. Er verweist auf die Internetseite des Kompetenzzentrums Fachkräftesicherung, das sich die Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen auf die Fahne geschrieben hat: www.kofa.de/fluechtlinge

„Großes Engagement des Mittelstands“

Jede dritte Verbundgruppe plant, Praktikumsplätze für Flüchtlinge und Asylbewerber zu schaffen, meldet der Zentralverband Gewerblicher Verbundgruppen (ZGV), Berlin. 36 Prozent wollen sogar eine duale Ausbildung anbieten, heißt es weiter. 20 Prozent der 230.000 im ZGV organisierten mittelständischen Anschlusshäuser beschäftigen laut Verband bereits geflüchtete Menschen, so die die aktuelle hauseigene Konjunkturumfrage. „Die Zahlen zeigen, wie groß das Engagement des Mittelstands in der Praxis schon heute ist“, kommentiert ZGV-Präsident Wilfried Hollmann die Ergebnisse der Umfrage. „Wenn nun auch die Politik die Prozesse konsequent zur Klärung der Aufenthaltstitel und Qualifizierungen beschleunigt und die bürokratischen Hürden für die Beschäftigung von Flüchtlingen abbaut, mache ich mir um ein Gelingen der Eingliederung von Migranten in unsere Wirtschaft keine großen Sorgen“, zeigt er sich optimistisch.

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